„Ich gehöre hierher. Ich habe das verdient.“
Larry ‚Rain‘ Murphy ist verurteilter Mörder und sitzt dafür im Folsom State Prison. Eigentlich sitzt er dort nicht, sondern läuft. Rain Murphy hat seine eigene Mauer um sich errichtet, die ihn auch innerhalb des Gefängnisses umschließt.
Er bekommt keinen Besuch und nimmt an keinen sozialen Programmen teil. Rain Murphy läuft. Wann immer die Gefangenen zur freien Verfügung in den Hof dürfen, läuft er. Einmal um die Mülltonnen ist eine Viertelmeile. Keine Aschenbahn, nur ein getrampelter Weg.Dann fällt dem Direktor auf, wie schnell Rain auf diesem Nichts von Rennstrecke läuft und was dieser geständige Mörder auf einer richtigen Olympia-Bahn leisten könnte.
Michael Mann zählt zu den bemerkenswertesten Regisseuren des amerikanischen Kinos. Er ist kein Visionär, aber einer der visuellsten Filmemacher unserer Zeit. Er war nicht im illustren Zirkel des neuen Hollywood Anfang der Siebziger, aus dem unter anderem Spielberg, Lucas, Scorsese und natürlich Coppola hervorgingen. Er spielte auch nicht in der zweiten Welle mit, in der Ron Howard oder Robert Zemeckis Anfang der Achtziger Hollywood bestimmten.
Michael Mann ist irgendwo dazwischen gewesen, fast schon auf sich gestellt. Und er hat für sich einen Stil gefunden, der etwas Einzigartiges hat. So unterschiedlich die Filme Manns erscheinen mögen, sind sie stets Variationen bestimmter Klischees. Bei Michael Mann will das Wort Klischee allerdings nicht negativ verstanden werden. Nicht umsonst verfasste er die meisten Drehbücher seiner Filme selbst oder schrieb daran mit. Und nicht umsonst ist er gerne Produzent seines eigenen Tuns.
JERICHO MILE ist die eher simple Geschichte eines Lebenslänglichen, dem eine zweite Chance gegeben wird, welcher er zunächst ablehnend gegenüber steht. Weder an der Chance ist Murphy interessiert, noch am Gefängnisleben als solches. Selbstredend unfreiwillig wird er in die internen Machtspiel zwischen Schwarzen, Chicanos und weißer Bruderschaft hineingezogen, als der Gefangene aus der Nachbarzelle ermordet wird. Er war das, was einem Freund für Murphy am nächsten kommt. Die Anstaltsleitung will, dass Rain Murphy läuft. Murphy hingegen, möchte Rache. Die Rache ist das bestimmende Motiv in Michale Manns Filmen. Und der Handel, der diese Rache erst möglich macht.
Das Dialoge und Szenen erst so funktionieren, wie sie bei anderen Filmen vielleicht lächerlich gewesen wären, verdankt Mann den vielen Nebenrollen und Statisten, die mit wirklichen Verurteilten aus Folsom besetzt waren. Die getreue Milieu-Schilderung und die Akzeptanz des Teams, die Gefangenen als vollwertige Mitglieder der Filmcrew zu verstehen, sorgten dafür, dass es während der kompletten Dreharbeiten zu keinen sonst üblichen Übergriffen kam. Der Film entstand komplett in und um Folsom State Prison und die für den Film gebaute Aschenbahn besteht noch heute.
Viele Köpfe haben sich mehr oder minder erfolgreich an einer Analyse von Michael Mann versucht. Aber eine Analyse ist allzu wissenschaftlich und wird auch oftmals persönlich, wo Abstand oft angebrachter wäre. Was immer Kritiker dem 1943 in Chicago geborenen Michael Kenneth Mann als filmische Verfehlungen vorwerfen, ist stets der unverstandene Teil eines künstlerischen Konzepts. Ein Konzept, das einen billigen TV-Film wie großes Kino erscheinen lässt.
Der Sender ABC ließ 1979 den unbekannten Michael Mann ein Gefängnisdrama verfilmen, das an Geschichte nicht dürftiger sein konnte. Doch allen lachhaften Stereotypen zum Trotz, hatte THE JERICHO MILE so viel Kraft, dass er in vielen europäischen Ländern in die Kinos gebracht wurde, in Deutschland mit dem Untertitel EIN MANN KÄMPFT ALLEIN. Die Geschichte des in Selbstisolation gefangenen Rain Murphy, der seinen Platz in der Gesellschaft durchaus kennt, ist der Mannsche Archetyp des Antihelden, wie er im eigentlichen Kinodebut THIEF – DER EINZELGÄNGER seine Fortsetzung findet. Oder in MANHUNTER – ROTER DRACHE, genauso wie in LAST OF THE MOHICANS, HEAT und COLLATERAL.
In JERICHO MILE ist Rain Murphy ein selbstbezogener Charakter, der keinen an sich ran lassen will. Er ist kein Held, kein Aufsässiger, er ist jemand, der die Regeln kennt. Und dieser Charakter lügt sich auch nicht an, obwohl er seine Tat und deren Ausgang zur Diskussion stellen könnte. Viel Bewegungsspielraum gibt der Regisseur seiner Figur dabei nicht, die ganze Reichweite der Charakterisierung entfaltet sich erst im letzten Drittel. Der von der freien Gesellschaft isolierte Murphy hätte eine Chance, als Läufer für Amerika an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Aber er verweigert vor einem Sportgremium das verlogene Spiel von Reue. Er gehört nach Folsom, er hat es verdient und am selben Ort, zur selben Zeit, unter denselben Umständen würde er seinen Vater wieder über den Haufen schießen.
Murphy weiß, was seine Aussage bedeuten wird. Seine ganze Figur konzentriert sich auf diesen einen Moment, in welchem er sich selbst treu bleibt, weil er auch nichts anderes haben wird, als sich selbst. Er versucht erst gar nicht, über anderen zu stehen, weil ihm durchaus bewusst ist, dass es immer jemanden gibt, der größer ist, höher gestellt. In JERICHO MILE ist die Figur noch eingesperrt. Im folgenden THIEF ist der Charakter des selbstgeplagten Einzelgängers ein Gangster, der sich in Freiheit bewegt und dadurch noch angreifbarer wird. Man muss sich arrangieren, immer und mit jedermann. Der von James Caan gespielte THIEF arrangiert sich mit der Unterwelt. In MIAMI VICE sind es die Polizisten, die legale Grenzen überschreiten müssen.
Selbst wenn Mann die Geschichten von realen Personen filmisch umsetzt, bleibt der Typus des gescholtenen Anti-Helden konstant. Muhammed Ali, Jeffrey Wigand aus INSIDER oder John Dillinger. Sie sind am besten, wenn sie sich auf sich selbst verlassen. Die Jericho-gleichen Mauern, welche sie um sich selbst herum aufgebaut haben, werden zwar stets von Gleichnissen der ominösen Trompeten zum Einsturz gebracht, der Anti-Held scheint dabei befreit, nur um dann doch wieder betrogen zu werden. Doch einmal auf dem unausweichlichen Weg, lassen sich diese Figuren nicht mehr unterkriegen, denn sie sind ja bekanntlich Männer mit Prinzipien. Ein Kritiker meinte zutreffend, Michael Manns Charaktere seien zwar stets maskulin, aber niemals macho.
Die Geschichten von Mann sind Geschichten, die sich auf eine Person fokussieren. In HEAT und COLLATERAL gönnt er sich allerdings, seine Figuren zu konterkarieren. Dem bösen Cop wird ein guter Gangster gegenübergestellt. Oder dem übermächtigen Bösen tritt ein unterwürfiger Guter an die Seite. Die JERICHO MILE läuft Larry ‚Rain‘ Murphy alleine. Von Stil und Stimmung wird er von Michael Manns eigenwilliger Erzählweise durch zwei Handlungsebenen getragen. Mann entwirft Bilder, die einen Rhythmus haben. Wie ein groß angelegter Musik-Clip wird der gesamte Film der Bildgestaltung unterworfen.
Der einpeitschende Rhythmus einer Instrumental-Version von SYMPATHY FOR THE DEVIL wird dabei zum zentralen Punkt in dieser eigentlich banalen Geschichte. Michael Mann benutzt nicht Musik, die zu seinen Bildern passt, sondern er arrangiert die Bilder zu seiner Musik. Am Anfang von JERICHO MILE sind es Impressionen von Folsom. Die einzelnen ethnischen Gruppen beim Nichtstun. Ein Schwarzer, der mit riesigem Kassettenrecorder auf der Schulter scheinbar zu der Musik tanzt, die der Zuschauer im selben Moment hört. Dazwischen immer wieder Rain Murphy, der unermüdlich seine Runden läuft. Verschiedene Graffiti. Unauffälliger Drogenhandel. Alltag im Gefängnishof. Wie ein bildhafter Refrain werden Einstellungen und variierte Bildausschnitte während des instrumentalen Stücks durchaus auch wiederholt.
Selbst bei LAST OF THE MOHICANS scheint die Musik zum Film geschrieben worden zu sein. Tatsächlich choreographiert Mann aber Rhythmus und Bilder nach der Musik. Wie stark Stimmung, Montage und Stil für den Regisseur über der Handlung stehen, wird in HEAT noch deutlicher, wo kaum noch Original-Musik zum Einsatz kommt. Selbst die Erzählstruktur wird der von Mann ausgesuchten Musik unterworfen.
Bei JERICHO MILE wird erst am Ende SYMPATHY FOR THE DEVIL noch einmal gespielt. Diesmal wird die Knastroutine auf Murphys letzten, für ihn selbst stattfindenden Lauf konzentriert. Mann versteht es vortrefflich, Zeitlupenaufnahmen in langer Brennweite zu integrieren, was andernorts peinlich und überladen wirken kann. Doch die gesamte Schlusssequenz schließt in ihrer Inszenierung auch den emotionalen Zirkel zum Anfang des Films. Die Auflösung hat nichts Überraschendes und beinhaltet auch nichts Neues. Murphy wird wegen seiner moralischen Einstellung die Teilnahme an den Vorentscheidungen für die Olympischen Spiele verweigert. Innerhalb der Mauern ist es für Murphy eine Frage der Ehre, die Meile schneller zu laufen als der Mann in der Welt draußen, der sich statt ihm für Olympia qualifiziert.
Dadurch, dass Michael Mann das musikalische Thema wiederholt und in der Inszenierung einen Zirkelschluss erreicht, wird der eigentliche, abschließende Triumph der Hauptfigur zu einer Rückkehr in die Normalität verkehrt. Aus dem inszenierten Kitsch kristallisiert sich die Realität einer Welt von Michael Mann. Rain Murphy läuft die Meile schneller als sein Kontrahent draußen. Aber das ist eben draußen. Während Larry ‚Rain‘ Murphy dort ist, wo er seines Erachtens nach auch hingehört.
Robert De Niros Figur in HEAT weiß am Ende um ihre Bestimmung. Tom Cruise‘ Killer in COLLATERAL akzeptiert seine vermeintliche Niederlage. Johnny Depps Dillinger arrangiert sich mit der Gewissheit, dass er als PUBLIC ENEMY bestimmte Konsequenzen tragen wird. Michael Mann zeigt keine Helden. Er zeigt Figuren, die sich ihres Platzes in der Gesellschaft durchaus bewusst sind und auch gar nicht versuchen, dagegen anzugehen. Diese Charaktere werden greifbar, weil sie stets brachial zurückgeholt werden, nachdem ihnen kurz gelang, über sich hinauszuwachsen. Es sind keine anspruchsvollen Geschichten. Keine übermenschlichen Figuren. Der schmale Grat zwischen Kitsch und Poesie existiert in der Welt des Michael Mann als filmischer Selbstzweck. Eine Welt um ihrer selbst willen. Das macht diese Welt in ihrer dem Stilmittel unterworfenen Einfachheit auch so ehrlich.
Rain Murphy zerschmettert nach seinem letzten Lauf die Stoppuhr an der Wand eines Zellentrakts. Er ist dort angekommen, wo nach ihm alle anderen Charaktere von Michael Mann auch hingeleitet werden. Zu der Akzeptanz ihrer Bestimmung. Echte Kerle eben. Maskulin, aber niemals macho.
Diese Betrachtung ist älteren Datums und wurde für den Zauberspiegel überarbeitet. Während dieser Überarbeitungsphase veröffentlichte der New Yorker Filmkritiker Matt Zoller Seitz ein außergewöhnlich vielschichtiges Essay über Michael Mann. Dieses Essay deckt sich naturgemäß in vielen Beobachtungen und Aussagen mit den hier vorangegangenen Äußerungen. Wer allerdings an einer weit ausführlicheren Analyse über die gesamte filmische Schaffenskraft des Regisseurs interessiert ist, dem sei Matt Zoller Seitz unbedingt empfohlen.