Pünktlich zur Jahrtausendwende verkündete der Regisseur und Produzent George Lucas den Beginn der digitalen Revolution. Sein seit den Anfängen wegbegleitender Freund Walter Murch, vielfach ausgezeichneter Cutter und Sounddesigner, tat es ihm sogar eine Spur enthusiastischer nach. Kein Mikrofon, das nicht die lobpreisenden Worte des digitalen Umsturzes auffing.
In der Encyclopedia Britannica steht bei Revolution unter anderem: „Der Terminus wird sinngemäß auch in Ausdrücken wie der Industriellen Revolution verwendet, wo er sich auf einen radikalen und grundlegenden Wandel in ökonomischen Beziehungen und technologischen Gegebenheiten bezieht.“
Da haben Lucas und Murch nicht übertrieben, könnte man wenigstens glauben.
Das kleine Kino um die Ecke hat nun auch dicht gemacht. Da ging man noch hin, wenn man was auf sich hielt, wenn man wirklich etwas von Kinoflair spüren wollte. Das große Kino um die Ecke gibt es noch, eines der ältesten in der Stadt. Noch die alten Wandteppiche, die schon leicht riechen, nicht zu vergessen die historisch anmutenden Holzsitze mit Schaumstoff und Kunstlederbezug. Dieses ächzende Quietschen des Seilzuges, wenn sich der Vorhang öffnet. Das Nachstellen von Bildstand und Schärfe, wenn das erste Bild auf die Leinwand fällt. Wahre Kino-Atmosphäre.
Keine von Popcorn verschmierte Sitzreihen und auch kein störendes Publikum, wie in den überfüllten, umtriebigen Abspielstätten des Multiplex. Hier um die Ecke, da rattert noch die alte Ernemann. In leisen Sequenzen hört man sie aus dem Vorführraum in den Saal. Die Xenon-Lampe müsste erneuert werden, das Bild ist schon einen Hauch zu dunkel. Aber das Bild ist auch ein bisschen milchig, der Spiegel im Lampenhaus sollte mal gereinigt werden. Dafür knallt es ordentlich, wenn von der Pausenmusik auf Filmton umgeschaltet wird.
Alte Kinos haben ein erstaunliches Flair. Sie bestechen tatsächlich noch durch Ästhetik statt durch Funktionalität. Ein bisschen Prunk, ein Hauch Historie, das Gefühl, dass hier Großes stattgefunden hat. Sie sind schön anzuschauen, und sie laden zum Träumen ein. Und diese alten Säle werfen die berechtigte Frage auf, warum es heute nicht genauso sein kann. Vielleicht, weil es während 99 Prozent unseres Aufenthaltes an diesem Ort sowieso dunkel ist.
Aber haltet ein, ihr dunklen Gedanken. Da, eine 40.000-Einwohner-Stadt. Der hoffnungslose Fall eines einzigen, nur 125 Menschen fassenden Saales. Der filmverrückte Privatmann investiert mühsam angesparte 80.000 Euro für eine komplett digitale Technik. Die Filmauswahl ist entsprechend gering, aber das Publikum dankbar – und zahlreich.
Vereinzelt gibt es natürlich diese ehemaligen Paläste und Schachtelkinos aus den Fünfzigern und Siebzigern, die sich den technologischen Gegebenheiten angepasst haben. Doch selten sind sie, und meistens reichte der Umbau-Etat auch nicht für den Komfort. Zum glasklaren Bild und wuchtigen Ton gibt es Schwielen am Hintern und Nackensteife. Der Rest der geschichtsreichen Kinos dümpelt mit schwedischen Kunstfilmen und deutschem Underground dahin, bis die Pacht nicht mehr bezahlt werden kann.
Ohne Zweifel spricht sehr viel für den nostalgischen Charme dieser Lichtspielhäuser. Doch die Frage muss erlaubt sein, ob sie auch noch die existenzielle Begründung ihres Daseins erfüllen. Liebhaber der alten Zeit, verklärte Nostalgiker, Verfechter kultureller Besonderheit. Sie erfüllen sich selbst eine sehr noble Absicht. Der Erhalt von…, ja, von was eigentlich? Wohin führen diese noblen Absichten bei ihnen selbst?
Der Soziologe und Filmhistoriker John Belton nannte den Wandel zum Digitalen eine Scheinrevolution. In einem 14-seitigen Essay zum Umsturz in der Kinolandschaft meint er: „Jedenfalls in ihrer heutigen Form verändert die digitale Projektion unsere Erfahrung im Kino in keiner Weise und ist nicht mit der Überwältigung eines Publikums zu vergleichen, das erstmals Ton, Farbe, Breitwand oder Stereoton erlebte.“ Und er bringt es auf den Punkt mit den Worten, „die digitale Projektion vermittelt keine neue Erfahrung.“ Was auf den ersten Blick sofort bestritten werden müsste, relativiert sich im zweiten Gedankengang.
STAR WARS war 1977 der erste Blockbuster, der Computergraphiken verwendete, die in der Gigantomanie des Gesamtkunstwerkes nicht die Welt aus den Angeln hoben. TRON von 1982 wird noch heute die offizielle Anerkennung als bahnbrechendes Filmwerk verweigert, weil er seinerzeit so weit voraus war, dass ihn niemand verstand. Mit der Einführung des digitalen Tons Anfang der Neunziger gab es mehr Sorgen um den Standard als Begeisterung um die Klangqualität. SDDS, Dolby und DTS wollten sich in unnachgiebigen Schlachten Vormachtstellungen sichern, welche die Kinobetreiber nicht bereit waren mitzutragen. Zelluloid-Kopien schleppen noch heute vier verschiedene Tonsystem-Spuren auf dem Filmstreifen, inklusive des alten Lichttons.
Der Wechsel vom Analogschnitt zu Vertretern wie heute AVID oder Final Cut verläuft seit Jahren schleichend und unbemerkt, und ist zudem noch nicht wirklich abgeschlossen. Digitale Aufzeichnung ist auch seit Mitte der Neunziger schon handelsüblich. Mit der Entwicklung von Kameras, die digital 24 Vollbilder aufnehmen, wurde das Format auch kinotauglich. Zum Jahrtausendwechsel konkurrierten CineComms JVC-Projektor und Texas Instruments DLP-Projektor mit STAR WARS – EPISODE 1 um den Standard zur digitalen Projektion. JVC wird dabei soweit in die Schranken gewiesen, dass die Industrie noch weitere fünf Jahre braucht, um neben Texas Instruments mit einem konkurrenzfähigen Projektor den Abschluss zur Einleitung ins digitale Zeitalter feiern zu können.
2002 entstand mit STAR WARS – EPISODE 2 der erste Blockbuster, der in allen Bereichen von Produktion, Nachbearbeitung und Vorführung digital war. George Lucas hatte sich somit einen Traum erfüllt und die digitale Revolution ausgerufen, welche allerdings schon sehr lange vor seinen salbungsvollen Worten vor sich hin brodelte und zu diesem Zeitpunkt nach lange nicht abgeschlossen ist. Sein Freund und Mentor Francis Coppola sah in dieser schleichenden Entwicklung ganz andere Chancen und rief alle aufstrebenden, aber mittellosen Filmemacher auf, die digitale Technik für die Erfüllung ihrer Träume zu nutzen.
Der digitale Wandel hatte wirklich in den Haushalten schneller stattgefunden als in der dafür eigentlich angedachten Industrie. Mini-DV und Schnittprogramme auf PC waren zu Hause schneller verbreitet und genutzt, als Hollywood für die eigenen Annehmlichkeiten nachziehen konnte. Schnell ergab sich daraus eine Alternativszene zu JURASSIC PARK & Co. Nicht als Gegenbewegung gedacht, sondern als bezahlbares Instrument für die Umsetzung visionärer Kunstkinomacher, verlief die Entwicklung „Digital“ mit einem Mal links und rechts des traditionellen Filmemachens mit mechanischen Kameras und greifbarem Material.
Wackelfreier Bildstand, flickerfreies Sehen und eine kratzerlose Vorführungen haben durchaus sehr bestechende Vorteile. Der Ton muss zudem nicht mehr auf den Filmstreifen gequetscht werden, sondern wird unkomprimiert von der Festplatte abgespielt, was annähernd der Qualität entspricht, die der Toningenieur auch bei der Endmischung im Studio hört. Digital ist eine feine Sache, die enorme Vorzüge gebracht hat, für den Anwender wie für den Konsumenten. Aber der Ausdruck „revolutionär“ bleibt dabei wirklich relativ.
Durch die unregelmäßige Silberkörnung von Filmmaterial kann man die Bildauflösung kaum mit der eines digital erstellten Bildes gleichstellen. Stellt man diese aber ins Verhältnis, spricht man von einer drei- bis sechsmal höheren Bildauflösung eines 70mm-Films zum bisherigen digitalen Projektions-Standard von 2048 mal 932 Pixel Auflösung im selben Bildformat. Die Angaben schwanken ja nach Quelle. Und auch wenn digitaler Ton die Eigenschaft haben kann, rauschfrei und klar sein, wird er nicht das natürliche Klangvolumen von sechs Magnettonspuren auf einem 70mm-Film erreichen.
Zumindest der physische Vergleich lässt digitales Kino gar nicht so vorteilhaft erscheinen. Das propagieren auch jederzeit die Puristen. Aber Digital hat in seiner Begrifflichkeit auch die Eigenschaft, für den Konsumenten als makellos zu gelten. Außerdem bedeutet Digital Fortschritt, und das Publikum drängt auf Fortschritt. Doch welche Argumente auch immer gegen Digital ins Felde geführt werden möchten, sie verlieren an Bedeutung. Die Entwicklung ist evolutionär gesehen lange nicht abgeschlossen.
Von der Rentabilität einmal ganz zu schweigen. In Zeiten von Massenstarts und Day-and-Date-Veröffentlichungen, die den Filmstart zeitgleich in vielen Ländern rund um den Globus ansetzen, kann sich die Industrie die Menge an Kopien gar nicht mehr leisten, weil die Firmenkonglomerate, welche die Filmstudios leiten, das finanziell nicht tragen würden. Die Menge an zu bespielenden Leinwänden ist mit Zelluloid-Kopien auf Dauer technisch nicht zu bewältigen. Künstlerisch entscheidend ist zudem der uniforme Standard. Abgesehen von der Synchronisation in einigen Ländern kann man weltweit dieselbe, zertifizierte Bild- und Tonqualität genießen.
Stellet man das digitale Äquivalent der traditionellen 35mm-Kopie von STAR WARS von `77 gegenüber, kann Digital dem Zelluloid niemals das visuelle Wasser reichen kann, stellt es doch die optischen wie akustischen Ansprüche des Zuschauers zufrieden. Wohingegen Mini-DV-Material oder ein grobkörniger 16mm-Umkehrfilm durch Bearbeitung und Projektion auf digitaler Ebene sehr viel gewinnt.
Bild und Ton, wie es der Filmemacher gedacht hat. Nicht nur die Michael Bays einer überfrachteten Effekte-Welt, sondern auch die Von Triers und Hanekes aus der kuscheligen Nische des Programmkinos. Selbst der bleichgesichtigste Nischenfilmer stellt einen gewissen Anspruch an sich und somit an sein Werk. Der Filmemacher hat eine audiovisuelle Vorstellung, die er versucht umzusetzen. Man sollte diese angedachte Vision auch so genießen, wie es der Macher dem vermeintlichen Publikum nahebringen wollte
Wer nicht davon ablassen kann, das Sterben der alten, traditionellen Kinos hinauszuzögern, dem mag dies gegönnt sein. Ja, denn es hat etwas. Dieser stark ölige Geruch aus dem Vorführraum, das unsaubere Bild und diese Atmosphäre, dass hier schon so einiges stattgefunden hat. Das alles hat etwas, das muss unbestritten bleiben. Aber man muss sich von der irrealen Vorstellung lösen, dass es sich dabei um das einzig wahre Kino im kunsthistorischen Sinne handelt.
Der erste Satz in der Encyclopedia Britannica unter dem Begriff Revolution lautet: „In der sozialen und politischen Wissenschaft eine große, plötzliche, und folglich typisch brachiale Veränderung in der Regierung und ihren angeschlossenen Verbände und deren Strukturen.“ Also, im übertragenen Sinne, könnte man Lucas und Murch vielleicht sogar ihren Hurra-Schreien zustimmen. Und man muss gleichzeitig den Filmhistoriker John Belton hinterfragen könne, ob digitales Kino nicht doch neue Erfahrungen vermitteln kann.
Die digitale Revolution war keine plötzliche und auch nicht brachial in ihren Veränderungen. Aber auf der anderen Seite hat digitales Kino durchaus neue Erfahrungen vermitteln können. Der Filmriss ist zumindest verschwunden.