LOST RIVER – Bundesstart 28.05.2015
Die Besprechung basiert auf der amerikanischen BluRay-Fassung in englischer Sprache.
Es ist wie ein fiebriger Traum. Unangenehm und doch faszinierend. Mitunter schlägt er um zum Alptraum. Verfallene Häuser, brennende Fassaden. Endlose Graffiti auf verlassenen Werkshallen. Nichts scheint intakt, keine Gebäude, keine Straßen, die Menschen erst recht nicht. Es sollte Ryan Goslings Abgesang auf Detroit sein, eine Stadt die ihn durch ihre destruktive Atmosphäre faszinierte, aus der aber für den Kanadier auch alles coole von Amerika ausging. Autoindustrie und jede Menge Musik. Goslings Detroit heißt Lost River. Lost River ist auch eine Bezeichnung für einen Fluss, der in einem Krater verschwindet, oder unterirdisch weiterfließt. In Lost River ist es fast umgekehrt, wo eine Straße der Stadt direkt in einen Stausee weiterführt. Es ist ein beeindruckendes, und gleichzeitig das verstörendste Set im Film. Eine von Grün zu gewucherte Straße, die nur noch durch die Laternen als solche zu erahnen ist, welche durch das Gefälle langsam im See zu verschwinden. Eines von unendlich vielen Sinnbildern, die der Schauspieler und Regie Debütant Gosling seinen Zuschauern als Rätseln unterbreitet.
Passionierte Kritiker möchten in LOST RIVER ein Plagiat von David Lynchs Werken erkennen. Andere verweisen entsetzt und enttäuscht auf Tim Burton. Und die gereifteren Stimmen sprechen von verunglückten Anleihen bei Ingmar Bergmann. Aber davon sollte man sich ganz schnell lösen. Auch das Gosling seinem DRIVE-Regisseur Nicolas Winding Refn nacheifere, und daran scheiterte. Natürlich wäre er daran gescheitert, aber LOST RIVER hat auch nichts, was sich mit den Filmen von Nicolas Winding Refn vergleichen ließe. Selbst als Cineast, oder gestrenger Kritiker, sollte man all das versuchen auszublenden, und LOST RIVER als das Experiment anerkennen, welches dem Drehbuchschreiber und gleichzeitigem Regisseur vorschwebte. Ein Experiment, welches nicht wirklich aufging. Aber eines, das eine sogartige Faszination besitzt. Eine Geschichte, die man vielleicht sogar als Fabel bezeichnen könnte, schließlich tragen die viele Charaktere Namen von Tieren, oder die ihrer Charakterzeichnung.
Billy ist Mutter zweier Söhne, und ist mit drei Hypotheken-Raten im Rückstand. Die Bau-Firma kennzeichnet mit einer Spraydose schon ihr Haus für den Abriss. Ihr älterer Sohn Bones bastelt seine Urzeiten an seinem Wagen, um ihn wieder zum Laufen zu bringen. Nebenher sammelt er Kupferrohre aus verlassenen Häusern, um sie beim Schrotthändler zu verkaufen. Bully ist der selbst ernannte Herrscher der Stadt, und residiert im aufgelassenen Zoo. Für ihn gibt es nichts mehr zum beherrschen, und so jagt er wenigstens Bones. Aus Prinzip, und weil er es als sein Kupfer ansieht. Und da ist noch Rat, die sich um ihre verstummte Großmutter kümmert, welche seit Jahren in einer Endlosschleife ein Video ihres verstorbenen Mannes ansieht. Lediglich ein Taxifahrer ist der einzige, der die um ihn zerbröckelnde Welt zu verstehen scheint. Er ist der einzige Charakter einer unbestimmten ethnischen Minderheit.
Ryan Gosling hat keine wirkliche Geschichte geschrieben. Es sind eher Situationen, aber auch visualisierte Gedankengänge. Es geht um Figuren, die auf sich gestellt sind. Billy muss ihr Haus retten. Oder Bones, der ohne Ahnung und Hilfe ein Auto in Gang bringen muss. Rat will ihre Großmutter versorgen. Selbst Bully bleibt ein König ohne Gefolgschaft. Am Ende der Straße aus Lost River hinaus die in den See mündet, liegt eine geflutete Stadt. Und die Legende will es, dass der zerstörerische Fluch über Lost River beendet wird, sollte ein tapferer Held einen Gegenstand aus der gefluteten Stadt bergen. Das Ende des Films beendet diesen Fluch tatsächlich. Allerdings auch auf eine ganz andere Weise, wie man zuerst vermuten möchte. Es ist eben so, dass Ryan Gosling keinen einfachen Film machen wollte. Und genau dabei ist er erfolgreich gewesen. Es soll Buh-Rufe bei den Filmfestspielen in Cannes gegeben haben. Auch die wahren sicherlich gerechtfertigt. Wer die Schauspiel-Karriere des Ryan Gosling verfolgte, wird mit seinem Regie-Debüt auch etwas ganz anderes erwartet haben.
Einfach macht es einem der Filmemacher auch nicht. Verstörende Bilder reihen sich endlos aneinander, teilweise bizarre Übertreibungen. Ein brennendes Fahrrad, das an Bones vorbei rollt. Ein Theater, das extrem blutige Mordszenarien aufführt. Und immer wieder brennende Häuserfassaden. Es gibt kein Bild, welches dem Zuschauer die Möglichkeit für eine angstfreie Zukunft aufzeigt. In Benoît Debie hat Gosling dafür genau den richtigen Kameramann gefunden, der tatsächlich mit starken Kontrasten und kräftigen Farben die überaus morbide Atmosphäre zu verstärken versteht. Dazu rahmt Debie jede Szene so symmetrisch, wie es die Situation nur zu lässt. Erst mit Benoît Debies Arbeit wird die Vision des Filmemachers zu einem gesamtstimmigen Bild des surrealen Alptraums, den die Geschichte erzählen will. Die sich dabei entfaltende Ästhetik erzeugt eine suggestive Faszination, welche einen äußerst gelungenen Film vorgibt.
Ist es tatsächlich ein gelungener Film? Nein. Ryan Gosling ist am Ziel vorbei geschossen, weil er der eigentlichen Aussage seiner Geschichte zu wenig Gewichtung schenkte, und seine Charaktere nicht stringenter ihrer Bedeutung nach ausbaute. Aber, ist LOST RIVER deswegen ein schlechter Film? Keineswegs. In Cannes mögen sie Bug gerufen haben, und renommierte Kritiker können sich durchaus überfordert fühlen. Aber die verstörend, morbide Faszination in LOST RIVER ist allgegenwärtig und beeindruckt. Ryan Gosling hat der Stadt Detroit ein Denkmal gesetzt, das zum nachdenken anregt, und zum hinterfragen einlädt. Ein filmisches Rätsel, welches keine Antworten vorgibt. Aber mit Charakterköpfen wie Hendricks, Smith, Ronan und Mendelsohn eine durchaus annehmbare Herausforderung ergibt. Selbst der eher unbekannte Iain De Caestecker fügt sich nahtlos ein, in ein faszinierendes, weil sehenswertes Ensemble.
Je mehr man über Ryan Gosling Regie-Debüt sinniert, desto interessanter wird es. Eine Herausforderung, auf die man sich durchaus einlassen kann, wenn man das Experiment zu akzeptieren versteht. Denn genau darauf lässt sich LOST RIVER herunter brechen. Ein visuelles Abenteuer, welches den Mut hat, seine Zuschauer herauszufordern.
Darsteller: Christina Hendricks, Iain De Caestecker, Matt Smith, Saoirse Ronan, Ben Mendelsohn, Barbara Steele u.a.
Drehbuch & Regie: Ryan Gosling
Kamera: Benoît Debie
Bildschnitt: Nico Leunen, Valdis Óskardóttir
Musik: Johnny Jewel
Produktionsdesign: Beth Mickle
USA / 2014
95 Minuten