ANNIE

ANNIE – Bundesstart 15.01.2015

Annie-1, Copyright Sony Pictures ReleasingMusicals sind ja wirklich eine Seltenheit im Kino geworden. Lediglich Disney-Filme wagen es noch immer, immer wieder spontan und unmotiviert in Gesang auszubrechen. Und genau das erklärt aber auch den Schwund in diesem Genre, weil selbst die schönsten Lieder den dramatischen Fluss eines Filmes eigentlich nur aufhalten. Eine Arie in der Oper bedeutet ja auch, das die Handlung ruht. Man muss sich also einiges einfallen lassen, um den Stillstand nicht als solchen zu vermitteln, weil diese Stücke dann doch eine erklärende Bedeutung haben. Robert Wise schaffte das bei WEST SIDE STORY mit atemberaubenden Bildkompositionen und herausragenden Choreografien. Und wie schafft das Will Gluck bei ANNIE? In dem er das Genre Musical erst einmal genau durchleuchtet hat, ganz offensichtlich mit dem Anspruch, sich so weit wie möglich von den Genre-Standards fern zu halten. Heraus gekommen ist eine vergnügliche Neuinterpretation eines fast 40 Jahre alten Bühnenstückes, und einem über 30 Jahre alten Filmes. Ein Film des Meisters John Houston im Übrigen, bei dem noch vor 1982 ein frohlockendes Musical über ein Waisenkind mit ungetrübter Lebensfreude in der Vita kaum vorstellbar gewesen wäre.

Annie (Wallis) ist es nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sie keine Waise sei, sondern ein Pflegekind. Sie ist davon überzeugt, dass ihre leiblichen Eltern eines Tages wieder in Erscheinung treten werden. Annie ist eines von vier Pflegekindern bei der überdrehten Colleen Hannigan (Diaz), welche die finanzielle Unterstützung des Staates eher für ihren Alkoholkonsum benötigt. Durch einen wirklich dummen Zufall, trifft Annie auf den Großunternehmer Will Stacks (Foxx), der nichts mehr hasst, als andere Menschen. Aber dem Erfolg verschrieben, möchte Stacks über seinen Millionärsstatus hinaus noch mehr erreichen. Zum Beispiel das Bürgermeisteramt von New York. Das er Annie davor bewahrt, von einem Auto überfahren zu werden, war nur ein Reflex, wird aber Dank der neuen sozialen Medien ein sofortigen Click-Schlager. Der zuerst unbeliebte Misanthrop, gewinnt an Beliebtheit. Sein katzbuckelnder Berater Guy (Cannavale) wittert eine Möglichkeit, um seinem Herrn noch dienlicher zu sein. Der Millionär soll das arme Waisenkind Annie … falsch, das Pflegekind Annie, bei sich aufnehmen. Die positiven Umfragewerte für Will Stacks überschlagen sich. Genießt Annie erst einmal ihre neue, reiche Umgebung, glaubt sie weiterhin an die Rückkehr ihrer wahren Eltern. Und im Hintergrund nutzen das die bösen Kräfte, um ihren persönlichen Vorteil rein finanzieller Kultur zu pflegen.

Annie-3, Copyright Sony Pictures ReleasingKameramann Michael Grady gehört wohl zu den weniger bekannten Bildgestaltern, aber dies zu unrecht. Denn zuletzt bei GONE, FASTER, oder EINFACH ZU HABEN hat er schon immer bewiesen, dass es sehr gut möglich ist, die Bildsprache dem Thema, oder dem Tenor der Erzählung anzupassen. Die heutige ANNIE als Remake eines über 30 Jahre alten Filmes abzutun, wäre grundlegend falsch. Genau genommen trifft die immer wieder vergewaltigte Wortschöpfung von Neuinterpretation, ausgerechnet bei diesem Film seine perfekte Einordnung. Zweifellos ist genau hier die Erklärung, warum Regisseur Will Gluck auch nicht auf seinen Kamera-Kumpel Michael Grady verzichten konnte. Und das muss man einfach als glücklichen Umstand zugute halten. ANNIE in dieser neuen Form, ist keine ANNIE die das Musical wieder verstärkt in die Kinos bringen wird. Aber dieser Film beweist sich als Beispiel dafür, dass es immer wieder diese überraschenden und überwältigenden Ausnahmen geben kann, die für diesen speziellen Fall Zuschauer für sich einzunehmen versteht.

Warum tut sich ANNIE gegenüber seinen Vorlagen und anderen Kino-Musicals hervor? Zuerst einmal gilt die Ausrichtung einer afroamerikanischen Annie. Das nimm der Film schon einmal zum Anlass, die Kenner des Musicals zu irritieren. Denn der Film beginnt mit einem quirligen weißen Mädchen mit wilder roter Lockenmähne, dass in einem Klassenzimmer ihre Mitschüler unterhält. Das Bild einer Annie, wie wir sie längst kennen, und so auch von Harold Gray erfunden und gezeichnet worden war. Nach der ersten Verwunderung, darf die zweite Annie in der Klasse, mit ihrem Vortrag beginnen, und hier betritt dann tatsächlich unsere eigentliche Hauptfigur die Bühne.

Man hat sich einiges einfallen lassen, um ANNIE von der Statik einer Bühneninszenierung weg zu bringen. Das zeigt sich schon mit einem der besten Titelvorspänne der jüngeren Kinogeschichte. Die Themen der bekannteren Songs, wie „Tomorrow“ oder „It’s a hard-knock life“, werden in einem Medley nicht von Instrumenten gespielt, sondern von der Geräuschkulisse einer Großstadt. Kehrende Besen, hupende Autos, bellende Hunde. Das alles noch im Rhythmus geschnitten, ist ein kleines Kunstwerk für sich. Auch die Choreografien in den Song-Einlagen sind sehr überraschend inszeniert. Bei „It’s a hard-knock Life“ in etwa, interagieren die Darsteller und ihre Putzmittel immer mit der Kamera, sprich dem Zuschauer. Da fährt der Schrubber über die Linse, oder wird Putzwasser über die Kamera gekippt, und so fort. Und bei „Tomorrow“, dem anrührenden Stück, wo Annie ihre Hoffnung besingt, endlich ihre wahren Eltern zu finden, arbeitet die Inszenierung mit Spiegelbildern und Reflexionen. Annie sieht in Schaufenstern oder im Lack von Autos Bilder von glücklichen Familien, und wenn sie sich umdreht, ist da kein Vater der sein Kind in die Höhe hält, sondern ein Bauarbeiter, der seinem Kollegen einen großen Eimer auf das Gerüst reicht. Das ist nicht einfach nur originell, sondern unterstreicht den Tenor des Liedes ebenso, wie Annies innerstes Wesen. Und wenn Bobby Cannavale in einer Bar beginnt Cameron Diaz anzusingen, ist ihre Reaktion ein unschlagbarer Seitenhieb auf gerade diese für Musicals typischen Situationen.

Greg Kurstin und Sia Furler komponierten drei neue Songs für den von Will Smith hervorragend produzierten Film, und Sia Furler schrieb mit Stargate einen neuen Vierten, die da wären „Opportunity“, „Who Am I“, „Moonquake Lake“, und The City’s Yours“. Von den zwanzig einzelnen Musiknummern des Broadway-Musicals blieben für diese Filmfassung lediglich neun Stücke. Und auch diese von Charles Strouse komponierten und von Martin Charnin getexteten Lieder, wurden von Kurstin und Furler angemessen neu arrangiert, um sich fließender in den Film einzufügen zu lassen, und zudem einen moderneren Anstrich zu erhalten. Ohne die Vorlagen zu kennen, scheint es aber ganz im Sinne des Films gewesen zu sein.

Aber ANNIE glänzt auch mit nicht nur exzellent aufpolierten Charakteren, sondern ihren fabelhaften Darstellern. Allen voran Jamie Foxx als opportunistischer Polit-Kandidat, der dem Genre entsprechend überspitzt agieren und reagieren darf, aber seine Figur stets vor der Lächerlichkeit oder nervenden Farce zu schützen versteht. Erstklassig zeigt sich auch Rose Byrne als Stacks Assistentin Grace, sie so verunsichert durchs Leben stolpert, das sie einem von Herzen leid tut. Und wie bemüht sie sich zeigt, immer wieder ins Gespräch zu bringen, dass sie sehr wohl Freunde hätte, ist das für den Film ein durchweg funktionierender Running-Gag. Quivenzhané Wallis hätte für die weltumarmende, immer positiv eingestellte Annie nicht besser besetzt werden können. Vielleicht fehlen ihr noch etwas die Tiefen in ihrem Spiel, aber es wären lediglich Nuancen, die bei einem gut aufgelegten Musical wie ANNIE jetzt tatsächlich als pingelig zu bezeichnen wären. Lediglich Cameron Diaz scheitert an ihrer Colleen, die einfach viel zu überdreht gespielt wird. Wo Foxx seinen Charakter immer noch kurz vor der Peinlichkeit zurück ziehen kann, fährt Diaz mit ihrer Figur immer nur nervend Vollgas.

ANNIE ist ein sehr gelungenes, sehr kurzweiliges Kinovergnügen für die gesamte Familie. Will Gluck hat das Genre nicht neu erfunden, aber es mit einem erstklassigen Team soweit aufpoliert, dass es frisch, unverkrampft und sehr unterhaltsam den Zuschauer an die Hand nimmt. Und weil natürlich die Frage aller Fragen weiterhin im unbeschrifteten Raum steht, beantworte ich sie mit Lautschrift, wie Wallis es selbst erklärt hat: Kwahwennschanäy

Annie-2, Copyright Sony Pictures Releasing

Darsteller: Jamie Foxx, Quivenzhané Wallis, Rose Byrne, Bobby Cannavale, Adewale Akinnuoye-Agbaje, David Zayas, Cameron Diaz u.a.
Regie: Will Gluck
Drehbuch: Will Gluck, Aline Brosh McKenna, nach dem Stück von Thomas Meehan
Kamera: Michael Grady
Bildschnitt: Tia Nolan
Musik: Greg Kurstin, Sia Furler, nach den Stücken von Charles Strouse und Ralph Burns
Produktionsdesign: Marcia Hinds
USA / 2014
118 Minuten

Bildrechte: Sony Pictures Releasing
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