MEN, WOMEN & CHILDREN – Bundesstart 11.12.2014
Jason Reitman kann sehr eindringliche Filme machen. Filme die unbeschwert sind, aber dennoch zu Herzen gehen. Filme, die sich so echt anfühlen, dass man tatsächlich ins Staunen kommt. JUNO war so ein Film, und natürlich der überwältigende UP IN THE AIR. Und zuerst glaubt man, dass sich ZEITGEIST hier mühelos einreihen könnte. Es ist nicht die erste filmische Auseinandersetzung mit dem als Phänomen gestarteten weltweiten Netz, welches zu einer Selbstverständlichkeit mutierte, und mit seinen daraus resultierenden sozialen Medien eine scheinbar nur vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Bereits in Henry Alex Rubins DISCONNECT wurde ganz klar gezeichnet, dass die modernen Formen von Kommunikation und sozialer Verbundenheit gleichzeitig Segen und Fluch geworden sind. Jason Reitmans Auseinandersetzung mit dem Thema weicht in ZEITGEIST nicht viel von dieser Aussage ab.
Da ist Tim, dessen Mutter die Familie allein gelassen hat, und er deswegen aus der Football-Mannschaft ausgetreten ist, um sich in ein Online-Computerspiel zu flüchten. Oder Allison, die mit gerade fünfzehn Jahren dem Schönheitswahn verfallen ist, und sich von wildfremden Menschen aus Chat-Rooms Rat holt, wie sie noch dünner werden könnte. Leicht hat es auch die jugendliche Brandy nicht, deren Smartphone von ihrer übertrieben protektiven Mutter überwacht wird, die sogar alle Passwörter ihrer Tochter verwaltet. Für Helen und Don wird das Internet zu einer besonderen Herausforderung, als sie merken, dass aus ihrer Ehe langsam die Luft entweicht, und jeder für sich im Netz nach einer gewissen Ablenkung vom Ehe-Alltag sucht. Viel einfacher hat es da Donna, welche die Karriereabsichten ihrer Tochter Hannah mit ganzem Herzen und voller Kraft unterstützt, und das mit einer Website, wo interessierte Fotografen oder Fernsehproduzenten mit sehr gewagten Fotos einen Eindruck von Hannah bekommen können.
Sehr geschickt hat der Roman, und daraus das Drehbuch, die einzelnen Figuren verbunden und die Geschichten ineinander verwoben. In der ersten Hälfte zeigt uns Reitman noch den ganz normalen Alltag, stellt die Charaktere vor, und ihren jeweiligen Bezug zur modernen Kommunikation. Die Textleisten der Smartphones, oder gerade besuchten Facebook-Seiten, werden direkt neben den Figuren im Raum schwebend eingeblendet. Vielleicht auch keine neues Stilmittel, hier aber sehr im Sinne der Geschichten eingebunden, und auch immer wieder einmal als Handlungselement genutzt. Wenn drei Freundinnen zusammen sitzen, texten sich zwei von ihnen immer wieder zu, was sie garstiges von der Geschichte der Dritten halten. Jason Reitman ist ein sehr eindringlicher Schauspieler-Regisseur, und so kommen die einzelnen Figuren auch beim Zuschauer an, wie sie tatsächlich wirken sollten. Sie sind real greifbare Menschen, mit nachvollziehbaren, ehrlichen Absichten und Bedürfnissen. Es gibt sogar einen Adam Sandler, der durchaus glaubwürdig ist, und sich ertragen lässt.
Gerade als der Film dann in seine zweite Hälfte starten will, glaubt man eigentlich schon alles gesehen zu haben. Obwohl jetzt erst die dramaturgische Saat aufzugehen beginnt, welche die Einleitung gesät hat. Aber was folgt, ist wenig überraschend, manchmal sogar etwas absehbar. Da ist der Cache, die Verlaufschronik, die Temporärer Dateien. Alles was noch vor kurzer Zeit für den normalen Anwender Hokuspokus war, ist mittlerweile eingeschliffene Routine. Mit dem von Jennifer Garner gespielten Charakter kommt in gewisser Weise auch der Identitätsdiebstahl hinzu. All das lässt Kartenhäuser zum einstürzen bringen, wird Menschen enttäuschen, verletzten, manche verletzen sich dabei selbst. War unsere elektronische Welt bekanntermaßen im Großen nie wirklich privat gewesen, ist sie es mittlerweile in engeren Beziehungen auch nicht mehr. War es früher ein verstohlener Blick ins Tagebuch der Schwester, ist es heute das Abgreifen von SMS oder das durchforsten des Verlaufs. Und der Zuschauer weiß, dass dies passieren wird, weil er selbst die eine oder andere Technologie benutzt, oder gar alle.
Besonders überraschend entwickelt sich als ZEITGEIST nicht, weil das Konfliktpotenzial bereits in der Einführung gelegt wurde. ZEITGEIST hat allerdings den Vorteil, dass er eine hervorragende Schauspielerriege hat, und einen einfühlsamen Regisseur, dem in erster Linie seine Figuren am Herzen liegen. So entstehen immer wieder Situationen, die zu entlarvenden Überraschungsmomenten führen könnten. Doch Reitman stellt seine Charaktere nicht bloß, überführt sie nicht, setzt sie keinen Peinlichkeiten aus. Er lässt sie selbst erkennen, worin ihre Schwächen stecken, und was sie falsch gemacht haben. Es gibt eine Szene zwischen Rosemarie DeWitt und Adam Sandler, die dem widersprechen könnte, aber nicht wirklich tut. Es ist eine sehr berührende, sehr authentische Sequenz, in welcher die Partner ihre Probleme beheben indem sie eben nicht reden. (SPOILER) Das ist ähnlich ergreifend, wie die Situation in UP IN THE AIR, wo George Clooney feststellen muss, dass seine Freundin mit gewissen Vorzügen eigentlich eine fürsorgliche Familienmutter ist (SPOILER ENDE).
Unsere Welt ist vernetzt. Die Möglichkeiten des kommunikativen Austausches werden immer vielfältiger. Das hat ihre guten, aber auch schlechten Seiten. Verzichten möchte jedenfalls niemand mehr darauf. Ob man darauf verzichten kann, ist eine andere Frage. Aber es ist keine Frage an die technische Entwicklung an sich. Denn lange vor dem Computer gab es das Automobil, und da gibt es die zum größten Teil vernünftigen Fahrer, aber auch die Raser, und die überforderten Schleicher. Jason Reitman hat als Thema doch lieber die digitale Welt erkoren. Viel Neues hat er dazu nicht zu sagen, aber etwas anderes, und das sehr interessant ausformuliert. Und wie die Geschichten der kleinen unbedeutenden Menschen in Beziehung zur immer wieder zwischengeschnittenen Raumsonde Voyager und ihrem überweltlichen Auftrag gesetzt sind, das verleiht ZEITGEIST eine Ebene, die so wirklich noch nicht in einen Kontext gebracht wurde.
Darsteller: Ansel Elgort, Kaitlyn Dever, Elena Kampouris, Adam Sandler, Jennifer Garner, Judy Greer, Rosemarie DeWitt, Dean Norris, Olivia Crocicchia, J.K. Simmons, Dennis Haysbert, Timothée Chalamet u.a.
Erzählerin: Emma Thompson
Regie: Jason Reitman
Drehbuch, Jason Reitman, Erin Cressida Wilson, nach dem Roman von Chad Kultgen
Kamera: Eric Steelberg
Bildschnitt: Dana E. Glauberman
Musik: Bibio
Produktionsdesign: Bruce Curtis
USA / 2014
119 Minuten