DEUX JOURS, UNE NUIT – 30.10.2014
Die Besprechung basiert auf der englischen DVD in französischer Sprachfassung
Sandra bleibt lediglich ein Wochenende, um ihre sechzehn Arbeitskollegen davon zu überzeugen, auf einen jeweiligen Bonus von 1000 Euro zu verzichten, damit sie ihre Stelle nicht verliert. Der Chef der kleinen Firma Solwal, Monsieur Dumont, hat seine Mitarbeiter an einem Freitag abstimmen lassen, und die Mehrheit entschied sich aus nachvollziehbaren Gründen für den Bonus. Aber Monsieur Dumont gewährt Sandra für den kommenden Montag eine zweite Abstimmung. Und dieses Ziel nutzen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, für eine menschliche Tour de Force, die nicht nur bei Sandra, sondern auch bei ihren Kollegen, alle menschlichen Facetten freilegt. Spricht man vom sogenannten Arthouse-Kino, dann denkt man immer zuerst einmal an Frankreich. Und wie ZWEI TAGE, EINE NACHT zeigt, nicht ganz zu Unrecht. Obwohl der Film eine hauptsächlich belgische Produktion ist, und in Belgien gedreht wurde, aber dafür im französisch sprachigen Raum Belgiens. Marion Cotillard soll sich dafür den belgischen Akzent der Region angeeignet haben, was der nicht Muttersprachler weniger beurteilen kann, dafür aber von ihrem Spiel umso begeisterten sein wird.
Sandra hat eine schwere Depression hinter sich, kämpft allerdings immer noch mit heftigen Nachwehen. In dieser Situation benötigt sie eine feste Konstante wie ihren alten Job umso dringender. Wie man im Laufe des Films erfährt, hat Vorarbeiter Jean-Marc Sandras Auszeit von Solwal genutzt, um manipulativ mit der Bonus-Frage, Sandra aus der Firma zu drängen. Ihre Odyssee, die sie nervlich kaum zu bewältigend scheint, wird ein Kraftakt an Menschlichkeit. Die Dardenne-Brüder geben Sandra Hoffnungsschimmer und Stolpersteine mit auf den Weg, die den Zuschauer wirklich mitnehmen und berühren. Dabei steht Sandra wohl im Mittelpunkt, die Konzentration liegt aber nicht auf ihr allein, sondern genauso intensiv auch auf den von ihr konfrontierten Figuren. Würde man meinen, eine klassische Schwarzweiß-Geschichte erwarten zu können, sind die Reaktionen und Erklärungen der jeweiligen Kollegen durchweg nachvollziehbar und verständlich. Was die Geschichte noch nervenaufreibender macht.
Leichte Kost ist ZWEI TAGE, EINE NACHT bestimmt nicht. Schon gar nicht für den zwanglosen Kinoabend. Die Dardennes verzichten, selbst bei den Titeln, vollständig auf einen Soundtrack, was die Authentizität der Geschichte noch unterstreicht. Aber es ist auch ein sehr gewöhnungsbedürftiges, weil ungewohntes Erleben. Das man diesen Effekt des Realismus mit ausschließlicher Schulterkamera verstärken muss, ist dann schon wieder sehr fragwürdig. Gerade wenn es sich um einen großen Kinosaal handelt. Technisch war es allerdings scheinbar gar nicht anders möglich, ohne die Produktionskosten explodieren zu lassen. Inszeniert haben die Regie- und Drehbuch-Brüder in langen Einstellungen von sieben bis acht Minuten. Das erfordert bei den Darstellern einen enormen Kraftaufwand, um in Charakter und der jeweiligen Situation zu bleiben. In einem Interview meinte Marion Cotillard viele Sequenzen bis zu fünfzig Mal wiederholt haben zu müssen, eine sogar über achtzig Male.
Ist ZWEI TAGE, EINE NACHT ein in seiner Umsetzung sehr typischer Arthouse-Film, ist er doch streng in die klassischen drei Akte aufgeteilt. Mit solchen Eckpfeilern fällt es dem Zuschauer leichter, an der vereinnahmenden Geschichte dran zu bleiben. Denn man weiß genau, dass man am Ende nicht unbedingt ein sonniges Kuschel-Happy-End erwarten darf. Und genau dies passiert am Ende von Sandras Odyssee, die in den letzten Minuten mehrere überraschende Haken schlägt, trickreich eine scheinbar längst abgefeierte Unterhaltung aufnimmt, um ein Ende zu zelebrieren, welches weit von den Erwartungen des Publikums entfernt ist. Doch tatsächlich ist dieses Ende die einzig akzeptable Auflösung der Geschichte. Sandra geht als gestärkte Frau hervor, die dieses Wochenende brauchte, um zu sich selbst zurück ins Leben zu finden. Und mit der überragenden Marion Cotillard, ist dies eine Reise mit einem weil paradox anmutenden, doch schmerzhaften Vergnügen.
Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Catherine Salée, Batiste Somin, Pili Groyne Simon Caudry, Lara Persain u.a.
Drehbuch und Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kamera: Alain Marcoen
Bildschnitt: Marie-Hélène Dozo
Produktionsdesign: Igor Gabriel
Frankreich – Belgien – Italien / 2014
98 Minuten