Das Erste, was einem bei WINTERS BONE einfällt, ist der Zweifel an der Authentizität des Gezeigten. Diese Welt ist so weit weg, dass man nicht an sie glauben will, und dabei ist sie doch so nah. In den tristen, farblosen Ausläufern der Ozark-Hochebene in Missouri kann nicht einmal die Sonne den Tag erhellen. Michael McDonoughs digital gedrehte Bilder sind kalt, unwirklich und trostlos. Dabei funktionieren sie wie das emotionale Herzstück des Films, das seine Figuren nicht nur umschließt, sondern auch zu durchdringen scheint.
Die gerade mal siebzehn Jahre alte Ree muss sich nicht nur um ihre beiden jüngeren Geschwister kümmern, sondern auch um die von starken Depressionen gezeichnete Mutter. Ihr Vater saß wegen Drogenhandel im Gefängnis. Und nun steht der Sheriff vor der Tür, um Ree mitzuteilen, dass ihr Vater als Kaution das Haus verpfändet hat und danach spurlos verschwunden ist. Um eine Zwangsräumung abzuwenden, bleiben Ree zwei Wochen, ihren Vater zu finden. Oder zu beweisen, dass er tot ist. Doch je mehr sich Ree bemüht, desto mehr wächst der Unmut in der ländlichen Gemeinde. Scheinbar soll der Vater nicht gefunden werden.
Mehr als einmal fragt Ree: „Sind wir denn nicht miteinander verwandt?“ Doch in dieser ärmlichsten aller Welten, einer Industrienation, ist Verwandtschaft ein leerer Begriff. Hier gibt es kein Unsere-kleine-Farm-Idyll, Regisseurin Debra Granik zeigt eine nüchterne Realität, in der Grabeskälte spürbar wird. Wenn Nachbarn helfen, dann zum eigenen Vorteil. Doch Granik ist auch weit davon entfernt, zu verurteilen, Ursachen zu suchen oder Mitleid erhaschen zu wollen. Die gesellschaftliche Form dieses kargen Lebens in einer Welt, die man durchaus noch als Wildnis bezeichnen kann, soll nicht analysiert werden. Die Figuren bleiben sie selbst und werden nicht obskuren Erklärungsversuchen unterstellt.
WINTERS BONE ist mehr Krimi als Sozialdrama. Er gewinnt immer mehr an Spannung, wenn dem Zuschauer bewusst wird, dass alles möglich ist. Ree wird geschlagen, gedemütigt, und ihr Tod wäre nicht abwegig. Ree befindet sich mit ihren jungen Jahren auf der Ebene des Zuschauers, wenn sie realisiert, wo die Erwachsenen in ihrem Umfeld bereits angekommen sind. Auch der Zuschauer fragt sich: „Sind sie denn nicht miteinander verwandt?“ Es ist dieses letzte Quäntchen, das ihr zur eigentlichen Erkenntnis fehlt, dass der Begriff Verwandtschaft auch in eine fatale Richtung zu deuten ist. Rees kleine Geschwister sind noch reinen Herzens, spielen, lachen und tollen herum, weil ihnen das Verständnis für ihren sozialen Status fehlt. Dem gegenüber steht die verhärmte Welt der Erwachsenen, die keine Träume mehr zulässt.
Die zweifellos stärkste Szene ist ein improvisiertes Gespräch in einem Rekrutierungsbüro der U.S. Army. Büro und Sergeant Schalk sind echt, keine Kulisse, kein Statist. Hier prallen zwei Welten aufeinander, verdeutlichen dem Zuschauer allein durch das Gespräch eindringlich den Kontrast zwischen einem geordneten, nachvollziehbaren Lebensweg und dem sozialen Gefüge einer Welt, die ständig improvisiert.
Einer grandios einfühlsamen Jennifer Lawrence steht ein überzeugend stoischer John Hawkes als Rees Onkel Teartrop gegenüber. In einer blassen, kalten Welt, vor der man eigentlich lieber die Augen verschließen möchte, sind beide die letzten Funken eines sterbenden Feuers, in dessen Umfeld niemand die Kraft oder die Mittel hat, ein Stück Holz nachzulegen.
Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Kevin Breznahan, Garret Dillahunt, Dale Dickey, Sheryl Lee, Lauren Sweetser, Russell Schalk u.a.
Regie: Debra Granik – Drehbuch: Debra Granik, Anne Rosellini – Kamera: Michael McDonough – Bildschnitt: Affonso Goncalves – Musik: Dickon Hinchliffe – Produktionsdesign: Mark White
USA /2010 – zirka 99 Minuten