LIFE OF PI – Bundesstart 26.12.12.
Man sollte endlich Abstand davon nehmen, ein Buch als unverfilmbar zu bezeichnen, vor allem wenn der Film dazu gerade in die Kinos kommt. Das hat damals die UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS zu keinem besseren Buch gemacht und den Film nicht schlechter. Zuletzt war unverfilmbar bei CLOUD ATLAS zu lesen, und nun kommt LIFE OF PI. Dies macht es Ang Lees Adaption nicht leichter, wenn überall betont wird, wie sich die literarische Variante gegenüber einer visuellen Umsetzung verhalten soll. Damit werden nicht nur Erwartungen geweckt, sondern auch Meinungen geformt. In Ermangelung an der Lektüre fällt es jedenfalls sehr leicht, Ang Lees LIFE OF PI als phantastischen Film zu loben. Seinem poetischsten seit TIGER & DRAGON. Eine Poesie, die sich nicht nur aus der frei interpretierbaren Geschichte ergibt, sondern ergänzend aus der imposanten visuellen Umsetzung.
Pi wächst im indischen Pondicherry auf, wo seine gut situierten Eltern einen Zoo unterhalten. Auf seinem jungen Lebensweg findet Pi Zugang zu allen drei großen Weltreligionen und sieht sich als gläubiger Moslem, Christ und Jude gleichermaßen. Sein rationaler Vater kann Pi diesen Unsinn nicht ausreden, der Junge hat einfach seinen Weg noch nicht gefunden. Pi wird älter, und mit ihm das Geschäft seiner Eltern. Der Zoo ist nicht mehr rentabel, also will Vater die Tiere nach Nordamerika verkaufen und die Familie in Kanada ein neues Leben beginnen lassen. Ein Sturm auf hoher See macht alle großen Pläne zunichte. Nach einer atemberaubenden Sturmsequenz befindet sich Pi in einem Rettungsboot zusammen mit einem Zebra, einem Orang-Utan, einer Hyäne und Richard Parker, dem bengalischen Tiger.
Die Geschichte ist sorgsam in drei Teile gegliedert. Der erste ist Pis Geschichte in Pondicherry und seine Annäherungen an einen Leitfaden für sein Leben, wie er die Religionen für sich entdeckt und beginnt, die Welt der Erwachsenen zu hinterfragen. Es ist sehr originell, wie Pi seine Kindheit meistert, das Drehbuch lässt sich dabei aber nicht zu billigen Lachern herab. Der Humor ist eher zurückhaltend, aber ständig präsent. Dazu gehört auch, wie es der Junge schafft, seinen peinlichen Namen zu ändern, der eigentlich gar nicht Pi ist. In diesem Teil bleibt die Kamera eher auf den Details. Das Leben im Zoo, die Augenblicke in der Schule oder in den Gottesstätten. Es ist Pis Blick auf das Wesentliche der Dinge. Claudio Miranda zaubert bunte, lebenslustige Bilder eines unbedarften Lebens. Die dabei stellenweise auftretende Künstlichkeit von ganz offensichtlich „inszenierten“ Bildern greifen dem zweiten Teil bereits voraus.
Mit siebzig Minuten nimmt der zweite Teil im Rettungsboot den größten, aber auch wichtigsten Teil ein. Pi verbringt 227 Tage auf dem pazifischen Ozean, im ständigen Clinch mit seinem Leidensgenossen Richard Parker. Sie erleben grausame Durst- und Hungerstecken, aber auch die Wunder des Lebens, des Ozeans und ihrer Selbstreflektion. In diesen 70 Minuten stecken Regisseur und Kameramann Miranda alle Möglichkeiten ab, um mit drastischen Überhöhungen von Sinnbildern oder nur durch Szenen um ihrer selbst willen bei diesem unglaublichen Abenteuer die eigentliche Poesie darin erkennen zu lassen. Den Szenen des Leids von Junge und Tiger werden immer wieder atemberaubend komponierte Bilder entgegengestellt, die in ihrer Unnatürlichkeit kaum zu übertreffen sind, dadurch aber eine noch höhere Akzeptanz beim Zuschauer erreichen. Was auf dem Ozean passiert, soll eben keinen Leidensweg darstellen, soll nicht den Jungen zum Mann formen und soll am Ende auch kein Abenteuer sein. Es soll die Kraft des Lebens symbolisieren. Eine von vielen Sequenzen, die den Zuschauern überwältigen und gleichzeitig schaudern lassen, ist ein Wal, der nächtens durch einen Schwarm fluoreszierender Qualen schießt und das Rettungsboot beinahe zum Kentern bringt. In dieser wie in vielen ähnlichen Szenen zeigt sich die eigentliche Kunst der Macher, die gesamte Technik und künstlerischen Aspekte auf das Höchstmögliche in Einklang zu bringen. Das gipfelt nicht nur in exzellent gestalteten 3D-Bildern, sondern man bezieht sogar noch das Variieren mit den Seitenverhältnissen vom Academy-Format hin zu Cinemascope mit ein. Den ganzen Film hindurch bilden Kameraposition, Bildaufteilung, Schnittsequenz und die Tricktechnik eine selten gesehene Harmonie.
Die kürzeste Zeit der dreigeteilten Geschichte steht der Rahmenhandlung zur Verfügung. Es ist der erwachsene Pi, der einem Schriftsteller mit Schreibblockade die Geschichte vom Schiffbruch mit Tiger erzählt. Es ist aber auch der kontroverse Abschnitt in der Geschichte. Alles, was der Zuschauer sieht, alles, was er erlebt, und die für den Zuschauer einhergehenden Erfahrungen, seien sie spiritueller oder menschlicher Natur, werden mit dem Schriftsteller und dem erwachsenen Pi auf den Kopf gestellt. Am Ende zeigt sich eine Geschichte mit zwei Gesichtern und mit der Möglichkeit für den Zuschauer, sich selbst zu entscheiden. Und das ist das eigentliche Kunststück in LIFE OF PI, weil er sich trotz seiner esoterischen und religiösen Einflüsse der Rationalität nicht verweigert. Doch was haben wir schon von dieser Rationalität? Trotz zahlreicher Möglichkeiten wird der Zuschauer in keiner Minute mit Dogmen, Weisheiten oder Lehrsprüchen belästigt, was sofort angenehm auffällt, weil es auch sehr ungewöhnlich ist. Wenn man aus dem Kino geht, hält der Film noch lange nach. Doch nicht etwa die zwei Seiten der eigentlichen Geschichte werden bewegen, sondern nur der eine Teil, den wir in Frage stellen müssten. Denn der Zuschauer hat sich längst entschieden, weil die Sehnsucht nach Wundern viel stärker ist.
Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Adil Hussain, Tabu, Rafe Spall, Gerard Depardieu, Ayush Tandon, Gautam Belur u.a.
Regie: Ang Lee
Drehbuch: David Magee
Kamera: Claudio Miranda
Bildschnitt: Tim Squyres
Musik: Mychael Danna
Produktionsdesign: David Gropman
USA / 2012
zirka 125 Minuten