Großartig, schamlos, SHAME

Michael Fassbender scheint einer der Namen zu bleiben, die sich sehr gerne bei der Art von Filmen wiederfinden, die mit sehr viel Anspruch das Mainstream-Kino aufbrechen. Da gehört „Jane Eyre“ genauso dazu wie der sehnlichst erwartete „Prometheus“. Steve McQueens „Shame“ zählt definitiv nicht zu dieser Reihe, obwohl gerade dieser Film so viel Aufmerksamkeit erregt, dass er schon zwangsläufig weit über das Kunstkino hinaus ein Publikum erreichen wird. Für jemanden, der dem Popcorn-Kino huldigt, ist „Shame“ ein gefährlicher Ausflug über den Tellerrand. Denn McQueens traumatischer Seelenstrip ist kompromisslos, manchmal unangenehm und erzählt keine Geschichte.

Hypersexualität, oder im Boulevard reißerisch auch Sexsucht genannt, kann zwar in manchen Fällen als Störung anerkannt werden, doch über die Anerkennung als Krankheit streiten sich Gelehrte und Ungelernte gleichermaßen. Zum Glück ist es auch nicht McQueens und Abi Morgans Absicht, einen Mann und seine eventuelle Krankheit zu sezieren. Und auch wie Michael Fassbender die Figur angelegt hat, scheint Brandon Sullivan nicht wirklich unter dem treibenden Wechsel zwischen Sex und Masturbation zu leiden. Dieser Brandon Sullivan geht tiefer. Und da sich das Drehbuch jeder Art von Handlung verwehrt, hat man sehr viel Zeit, sehr tief zu blicken.

Weder der Kunst verschriebene Voyeure noch die Liebhabe menschlicher Tragödien werden hierbei auf ihre Kosten kommen. Obwohl Fassbender sich dessen absolut nicht schämen muss, was er reichlich zu zeigen hat, bleibt die Darstellung seines Körpers in der kühlen Ästhetik außerhalb jeder erotischen Absicht. Selbst die, auch nur seltenen, expliziten Sexszenen entziehen sich jeder Form von stimulierender Wirkung. Dennoch besitzen Sex und nackte Körper eine unheilvolle Kraft, die von extrem ausgeklügelten Bildkompositionen getragen werden. So wie der gesamte Film. Kein Bild ist wahllos, keine Stimmung unbeabsichtigt. McQueen ist mit seinem Kameramann Sean Bobbitt eine ganz unwiderstehliche Verführung gelungen. Sie scheuen sich auch nicht, ganze Passagen in einer einzigen, festen Einstellung zu drehen. So glaubt sich der Zuschauer in einer sehr intimen Annäherung.

Doch welche Annäherung soll das sein? „Shame“ entfalten sich als individuelles Puzzle. Brandon Sullivan ist kein Mensch, der unter seinen Leidenschaften und Trieben leidet. Es bleibt etwas Unbestimmtes, nicht einmal vage Anspielungen geben darauf Rückschlüsse. Der Sex allerdings, das ist Brandons Weg, die Geister zu vertreiben, die ihn heimsuchen. Von seinem Apartment aus liegt ihm hinter Panoramafenstern die Stadt zu Füßen. Aber die Stadt ist ihm nicht ergeben, sie grenzt ihn aus. Noch nie hat man in einem Film die große Stadt New York so verlassen gesehen. Wenn Brandon laufen geht oder auf freien Plätzen seine Zorn hinausschreien möchte, keine gewohnten Menschmassen, sondern nur Leere. Die Stadt als Sinnbild für sein Seelenleben. Das sind starke Bilder, unheilvolle Bilder, Bilder die hängenbleiben.

Doch „Shame“ erzählt keine Geschichte. Wo sich in manchen Szenen Dramen aufzubauen scheinen, verflüchtigen sie sich in den nächsten Momenten schon wieder. Das Spiel mit einer vorgegaukelten Erzählstruktur ist eines der faszinierendsten Erlebnisse bei diesem Film. Tatsächlich handelt es sich um aneinandergereihte Momentaufnahmen, die allerdings niemals wahllos sind. Die Struktur von „Shame“ ist wesentlich dichter und intelligenter, als man wiedergeben vermag. Dies macht ihn nicht etwa zu einem Experiment, aber zu einer kühnen Provokation. Und dabei spielt für diese Provokation der Sex eine weit untergeordnete Rolle.

Es ist die Frage, wie nahe man einer fremden Person kommen kann oder kommen darf. Die titelgebende Scham deutet nur vermeintlich auf das Offensichtliche hin. Doch wer Brandon Sullivan kennenlernt, der versteht mit der Zeit, dass diese Scham eine tiefere, nie ausgesprochene Quelle hat. Und die ist für jeden Zuschauer individuell erforschbar. Der Film endet mit einer Verführungssequenz, wie er mit einer begonnen hat, und schließt den Kreis. Mehr werden wir von Brandon nicht erfahren. Aber man wird sich weiter mit ihm beschäftigen. Zweifellos sind wir einer fremden Person nähergekommen, als man sollte. Kompromisslos, manchmal unangenehm, aber absolut spannend. Ein Film, der so viel Aufmerksamkeit erregt, dass er schon zwangsläufig weit über das Kunstkino hinaus ein Publikum erreichen wird. Und dieser Blick über den Tellerrand wird garantiert nicht jedermanns Sache sein, vielleicht aber den einen oder anderen Zuschauer auf seine unangenehme Art angenehm überraschen.

Steve McQueen mit Michael Fassbender am Drehort

Darsteller: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie u.a.
Regie: Steve McQueen
Drehbuch: Abi Morgan, Steve McQueen
Kamera: Sean Bobbitt
Bildschnitt: Joe Walker
Musik: Harry Escott
Produktionsdesign: Judy Becker
Großbritannien / 2011
zirka 99 Minuten

 

Bildquelle: Fox Searchlight
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