MEMORY

Memory - Copyright TEOREMA

MEMORY – Bundesstart 03.10.2024 – Release 05.01.2024 (US)

Es gibt eine Szene im letzten Drittel der extrem kurzweiligen 103 Minuten, die eine derartige Spannung besitzt, dass man im Saal tatsächlich spürt, wie das Publikum ein kollektives Nein zur Leinwand schreien möchte. Als Filmemacher weiß man in solchen Situationen, dass man bis hierhin alles richtig gemacht hat. Der Autorenfilmer Michel Franco hat mit MEMORY einen Film gemacht, bei dem man sich im Verlauf immer wieder sagt, bisher ist alles richtig. Nicht nach Erwartung, nicht nach Blaupause, nicht auf maximalen Effekt, sondern alles richtig. Mit Ausnahme des letzten Bildes.

Dabei beginnt MEMORY mit einem furchtbaren Klischee. Das Treffen einer Gruppe Anonymer Alkoholiker zeigt die Anwesenden in Nahaufnahme mit beobachtender, sprich verwackelter Handkamera. Man möchte fast annehmen, dass diese anfängliche Irreführung Absicht von Francos regulärem Bildgestalter Yves Cape war. Im weiteren Verlauf fotografiert Cape selbst die intensivsten und dynamischsten Sequenzen mit festen Einstellungen, was einen ungekünstelten, fokussierten Blick auf die fabelhaften Darsteller ermöglicht. Und Darstellung ist, was die Geschichte erst möglich macht.

Im Lexikon steht unter Gedächtnis: „Fähigkeit des Gehirns, beliebige Informationen zu speichern, zu assoziieren und sie später wieder abrufen zu können“.
Sylvia hat zwar Alkoholismus überwunden, ist aber von einem tiefen Trauma befallen, was auch ihre Erinnerungen durcheinander bringt. Saul ist an früh einsetzender Demenz erkrankt, an Dinge von vor fünf Minuten kann er sich nicht erinnern. Was Jahre zurückliegt weiß er noch, kann sich aber komischerweise nicht entsinnen, mit Sylvia in der Schule gewesen zu sein. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, sind sich aber so ähnlich. Wie ist das mit Erinnerung, was hat man gespeichert, wie assoziiert man etwas, und was ruft man aus dem Gedächtnis ab. Für beide eine intensive Erfahrung.

Memory 2 - Copyright TEOREMA

 

Michel Franco ist es ausgezeichnet gelungen, die Geschichte von allem Ballast zu befreien, die andere Filmemacher ihren Dramen gerne aufladen. Die ersten Minuten sind etwas abstrakt, und werden zuerst verwirren. Allerdings ist dies die Grundidee gewesen, aus der Franco seinen Film entfalten ließ. Umso erhellender wird sich Sylvia und Sauls Zusammentreffen im weiteren Verlauf erklären. Sie ist als Sozialarbeiterin in einer Stätte für Benachteiligte beschäftigt, und Saul lebt mit seinem Bruder und der Nichte zusammen, die ihn betreuen. Man könnte mehr erzählen, wäre aber kontraproduktiv.

Was die Geschichte so spannend macht, ist der fantastische Fokus auf den Figuren. Es gibt noch Sylvias dreizehnjährige Tochter, Sauls fürsorgliche Nichte, eine Schwester, eine Mutter. Es ist ein bemerkenswert gespieltes Umfeld. Aber ein Umfeld von Charakteren, die nie einfach nur zu Statisten verkommen, besonders Brooke Timber als Sylvias Tochter Anna. Doch es ist die Geschichte der zwei leidgeprüften Seelen. Es ist erstaunlich wie nah Michel Franco seine Erzählung immer an den Rand der dramaturgischen Klischees bringt, und dann doch real und stimmig zu den Figuren und ihren Problemen bleibt. Es gibt keine konstruierten Zufälle, keine überraschenden Wendungen. Selbst der kathartische Ausbruch im dritten Akt folgt der inhaltlichen Logik der Erzählung.

Was will man dann noch Worte über Jessica Chastain und Peter Sarsgaard, und ihrer außerordentlichen Chemie verlieren? Man wäre dann nur zu Superlativen geneigt, die dem eigentlichen Eindruck dann doch nicht gerecht werden würden. Chastain und Sarsgaard sind dieser Film, der mit ihnen ohne Kitsch, überhöhtes Melodram, Happy End, oder falsche Konflikte auskommt. Ein beeindruckend gespieltes, und glaubwürdig inszeniertes Drama. Mit Ausnahme des letzten Bildes, denn so sehr man auch bei Sylvia und Saul in der Seele mitleidet, würde man gerne bei ihnen bleiben.

Memory 1 - Copyright TEOREMA

 

Darsteller: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber, Merritt Wever, Josh Charles u.a.

Regie & Drehbuch: Michel Franco
Kamera: Yves Cape
Bildschnitt: Michel Franco, Oscar Figueroa
Produktionsdesign: Claudio Ramirez Castelli
Mexiko, USA / 2023
113 Minuten

Bildrechte: TEOREMA
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