– Bundesstart 26.09.2024
– Release 20.09.2024 (US)
Alexandre Aja arbeitet am besten mit seinem eigenen Material. Das ist eine furchtbar billige Plattitüde. Aber MANIAC, HIGH TENSION, OXYGEN und insbesondere CRAWL sprechen da auch schon wieder dafür. Moment, MANIAC?! Leider ja, auch wenn er nur das Drehbuch verfasste, wusste er den Stoff für eine eigene Interpretation perfekt zu nutzen. MANIAC wurde von Franck Khalfoun inszeniert, ist aber zweifelsfrei Ajas Film geworden, trotz des ebenso furchterregenden Originals von William Lustig [sic!]. NEVER LET GO ist vom langjährigen Autorenduo Kevin Coughlin und Ryan Grassby geschrieben, die bisher nicht großartig in der Branche aufgefallen waren. Doch die Geschichte hatte genau die Elemente, die Alexandre Ajas bereits genannten Filme auch so gut machten. Eine alleinstehende Mutter, mit ihren beiden Kindern, in einer abgelegenen Waldhütte, darin gefangen durch eine unsichtbare Macht. Ein Zauber schützt das Haus, und nur mit daran befestigten Seilen können sich Mutter und ihre Söhne in dem umgebenden Wald bewegen, um auf die Suche nach Nahrung zu gehen.
Das Set-Design von Jeremy Stanbridge und seinem Team, der lichte Wald insbesondere, hat stets etwas Unnatürliches, aber nicht zu verwechseln mit ‚künstlich‘. Es funktioniert bestens, weil Ajas angestammter Kameramann Maxime Alexandre jede Einstellung mit bedrohlicher Intensität füllt, in denen man immer glaubt etwas zu sehen was nicht da ist, oder zu befürchten ist, die unsichtbare Macht würde sich plötzlich mit Getöse manifestieren. Die Atmosphäre ist ein intensives Unbehagen, das die Geschichte stets effektiv begleitet. Für die durchweg unheimliche Stimmung ist aber auch Ajas Langzeitkomponist Rob gleichberechtigt mitverantwortlich, hier einmal unter seinem vollen Namen Robin Coudert genannt. Die keiner Richtung zuordenbaren, leicht dissonanten Stücke wirken unterschwellig. Technisch ist der Film makellos.
Aber was für eine Welt ist NEVER LET GO. „The robe ist the lifeline“, ist das Mantra der dreiköpfigen Familie, wobei sich das Seil nicht nur als Lebensretter, sondern auch als Lebensader übersetzen ließe. Das eine fremde Entität das menschliche Leben weitgehend ausgelöscht hat, oder diese zumindest gnadenlos jagt, ist sicherlich kein unbekanntes Thema im fantastischen Film. Seinerzeit haben die Eltern von Mutter das Haus mit einem schützenden Zauber belegt. Der Kindsvater ist der unbekannten Macht zum Opfer gefallen. Manifestationen der Toten, welche die noch Lebenden mit nur einer Berührung auf ihre Seite bringen können, werden nur von Erwachsenen sehen.
Die namenlose Mutter ist die einzige Erwachsene. Und wie Kinder so sind, beginnen sie irgendwann Fragen zu stellen. Fragen, die ganz bewußt das Konstrukt des Narrativ ins Wanken bringen. Leider hat das Buch zu viele mögliche Antworten bereitgestellt, was Regisseur Aja mit merklichen Vergnügen auskostet. Die Filmliste mit vergleichbaren Szenarien und einhergehenden Auflösungen ist allein im aktuellen Kino extrem lang. Da kommt A QUIET DAY in den Sinn, oder Österreichs MOMMY MOMMY, und alle Filme von M. Night Shyamalan. Worauf will NEVER LET GO hinaus?
Die Vermutung einer Allegorie drängt sich förmlich auf. Aber die Geschichte wechselt immer so schnell zwischen den Möglichkeiten hin und her, was nicht etwa die Spannung hält, sondern leichte Erschöpfung auslöst. Es gelingt einem nicht in die Ereignisse einzutauchen, sondern man wird wegen der offenen Fragen einfach nur mitgezogen. Der Plot-Point am Ende des zweiten Aktes wirft dann noch einmal alles über den Haufen, was man an den gestellten Fragen für sich selbt beantwortet hat. Sei es Rassenkonflikte oder Pandemie, Massenpsychose oder Lügenkonstrukt, oder ist am Ende doch alles wahr. In der Auflösung verschwindet das ‚Oder‘ aus allen gegebenen Möglichkeiten.
Halle Berry ist in Hochform, und endlich einmal weg vom sauberen Model Look in allen Lebenslagen. Das ihr aufgeschminkte Aussehen einer ungeschminkten Kämpferin gibt ihr eine raue Wahrhaftigkeit. Berry ist nicht die gütige Mutter, sondern unbarmherzige, manchmal schmerzhafte Streiterin fürs Überleben. Schon lange hat Halle Berry nicht mehr so natürlich auftreten dürfen. Allerdings wird sie von ihren Filmsöhnen Percy Daggs und Anthony Jenkins ziemlich an die Seite geschoben. Der Regisseur tat sehr gut daran, den inszenatorischen Fokus auf die starke Ausdruckskraft von Daggs und Jenkins zu legen, und Berrys Starpower stark zurückzufahren. In dieser komplizierten, gefährlichen Welt überzeugen die Jungs mit ihrer einnehmenden Unbefangenheit.
Weder Buch noch Regie sind an einer festen Auflösung interessiert. Was an Fragen beantwortet wurde, oder man sich selbst erarbeiten musste, wirft nur neue Rätsel auf. Man kann aus künstlerischer Sicht durchaus verstehen, dass man sich bei den vielen Möglichkeiten der Interpretation nicht festlegen wollte. Und aus Publikumsicht wäre das auch nicht zwingend gewesen. Aber mit dem letzten Bild und letzten Satz den Anschein zu erwecken, als sollten diese sich gegenseitig widersprechen, schießt dann doch am Ziel vorbei. Ein technisch einwandfreier Thriller, der von Anfang an richtig packt, und im Verlauf den Griff immer mehr verliert. Bis man ohne Halt im Raum schwebt.
Darsteller: Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins u.a.
Regie: Alexandre Aja
Drehbuch: Kevin Coughlin, Ryan Grassby
Kamera: Maxime Alexandre
Bildschnitt: Elliot Greenberg
Musik: Robin Coudert
Produktionsdesign: Jeremy Stanbridge
USA / 2024
101 Minuten