Einen Führerschein hat Nicolas Winding Refn nicht, er soll sogar mehrmals durch die Prüfung gerasselt sein. Für jemanden, der bei einem Film mit dem Titel „Drive“ Regie führen soll, kein besonders gutes Vorzeichen. Überhaupt stand das ganze Projekt unter keinem guten Stern. Weder Darsteller noch Regisseur waren Wunschkandidaten. Der Charakter Irene sollte hispanischer Herkunft sein, und Komponist Martinez stand zu Drehbeginn noch gar nicht fest. Alles keine guten Vorzeichen.
Wer von einem Film hört, in dem ein namenloser Protagonist tagsüber Stunt-Fahrer beim Film ist und abends Fluchtwagen lenkt, und wer dann hört, dass der Film noch dazu den Titel „Drive“ trägt, der erwartet auch Entsprechendes. „Drive“ wird allerdings den wenigsten Erwartungen gerecht, denn er ist eigentlich alles, was man nicht erwartet.
Ryan Gosling ist dieser Film. Natürlich mit Hilfe von Winding Refn, aber letztendlich ist Gosling dieser Film. Dieser namenlose Held, der keiner ist. Der lange Zuneigung ausstrahlende Blicke wechseln kann und ohne Worte mehr über seinen inneren Zustand verrät, als es die geschliffensten Dialoge vermitteln könnten. Natürlich gerät dieser Mensch zwischen die Fronten, natürlich wird er zur Zielscheibe, natürlich steht er seinen Mann. Dieser Film ist wie ein Aufeinanderprallen von Steve McQueen und Michael Mann, welcher in „Thief“ mit James Caan der Ikone des Cool-sein schon sehr nahe kam. Aber Ryan Gosling darf mehr zeigen, mehr sein als der bereits bekannte Getriebene. Ihm wird ein Ziel zugestanden. Kein Kampf um Ehre, Selbstwertgefühl oder Gerechtigkeit. Der „Fahrer“ hat keine Vergangenheit, keine Geschichte, er ist im Hier und Jetzt verwurzelt. Und auf einmal könnte seine Geschichte beginnen, zukünftig eine Vergangenheit bekommen, wenn er vorher einen Weg geht, der aber auch übel enden könnte.
Dass im Vorfeld der Produktion so viel schiefgelaufen war, ist für Filmstandards nichts Ungewöhnliches. Dass sich am Ende alles so gefügt hat, grenzt allerdings schon an ein kleines Wunder. Ein kleines Wunder, das schließlich den Titel „Drive“ trägt. Der Hauptdarsteller fällt aus, Ryan Gosling springt ein. Als der Regisseur abspringt, wird auf Drängen Goslings der Däne Nicolas Winding Refn engagiert. Während der Dreharbeiten wohnt Hauptdarstellerin Mulligan im Haus von Winding Refn. Der Regisseur wird von seinem Hauptdarsteller während langer Fahrten mit der Stadt Los Angeles vertraut gemacht. So kommt am Ende „Drive“ ohne bekannte Stadtansichten aus. Der Regisseur gewinnt sein eigenes Gespür für die Stadt und versteht es hervorragend, diese als einen alles überspannenden Protagonisten zu integrieren. Winding Refn und Kameramann Newton Thomas Sigel haben ihren optischen Stil zweifellos bei Michael Mann geborgt, aber letztlich ist „Drive“ in seiner Gesamtheit so gelungen, dass die Macher sich dieser Referenzen nicht schämen müssen. Es ist zum Besten von Werk und Zuschauer.
Alte Autos und ein elektrifizierender Synthie-Soundtrack veredeln die langen Einstellungen, in den ruhigen Sequenzen genauso wie in den unaufgeregt geschnittenen, aber effektiven Action-Szenen. Während das gesamte Ensemble tadellos bleibt, hebt sich Albert Brooks mit der für ihn wahrscheinlich besten Rolle seit 20 Jahren merklich hervor. Als ehemaliger Filmproduzent erwähnt er gegenüber dem „Fahrer“: „Ich habe Action-Filme produziert. Sexy Zeug. Sie haben es ‚europäisch‘ genannt.“ Doch was versteht man unter europäisch? Vielleicht etwas Besonderes. Etwas, das nicht ständig nach Mainstream-Hollywood schreit, und dann doch ein ur-amerikanischer Film ist.
In diesem Sinne ist „Drive“ tatsächlich ein sehr europäischer Film. Keine „Fast-Five“-Mentalität, die einer packenden wenngleich nicht unbekannten Geschichte im Weg steht. „Drive“ ist alles andere als man anfangs erwarten würde. Sein Erzähltempo ist zu Beginn langsam, aber ehrfürchtig vor den Charakteren. Der Effekt ist hypnotisch, wenn der Film immer mehr Fahrt aufnimmt und in den letzten vierzig Minuten förmlich explodiert. Und doch bleibt er anders als erwartet, weil er sich vehement weigert, ein Action-Film zu sein.
Das ganze Projekt stand unter keinem guten Stern, was wie Alltag im Produktionszirkus von Hollywood wirkt. Menschen kommen und gehen, werden gefeuert, bekommen Angst, haben Terminprobleme, überwerfen sich künstlerisch. Dieser Alltag ist „Drive“ zugute gekommen, als die letztendlich engagierten Menschen vor und hinter der Kamera einen der spannendsten und ansehnlichsten Filme des letzten Kinojahres schufen. Etwas wirklich Besonderes, europäisch eben.
Darsteller: Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Granston, Albert Brooks, Oscar Isaacs, Ron Pearlman, Christina Hendricks, Kaden Lebs u.a.
Regie: Nicolas Winding Refn
Drehbuch: Hossein Amini
Szenenbild: Newton Thomas Sigel
Schnitt: Matthew Newman
Musik: Cliff Martinez
Produktionsdesign: Beth Mickle
USA / 2011
zirka 100 Minuten