LE THÉORÈME DE MARGUERITE
a.k.a. MARGUERITE‘S THEOREM
– Bundesstart 27.06.2024
– Release 01.11.2023 (FR)
Marguerite ist Doktorandin für Mathematik an der französischen Elite-Universität ENS. Und sie beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Goldbachschen Vermutung. Marguerite ist eine introvertierte Einzelgängerin, und sie weiß ihre Genialität gut einzuschätzen. Man könnte sie als eine Mischung aus Alan Turing und John Nash bezeichnen, obwohl es in der realen Mathematik sicherlich bessere Vergleiche geben würde. Aber auf filmischer Ebene bieten sich Turing in THE IMITATION GAME und Nash in A BEAUTIFUL MIND förmlich an. Marguerite Hoffman ist keine reale Person, aber sie ist echt. Ella Rumpf spielt sie mit einer natürlichen Glaubwürdigkeit. Am eindringlichsten kommt das bereits zu Beginn zur Geltung, wenn der neue Schützling ihres eigenen Doktorvaters sie vor dem gesamten Kollegium auf eine Unstimmigkeit in ihrer Arbeit hinweist.
Regisseurin Anna Novion ist in diesem, ihrem erst dritten Kinofilm, sehr mutig. Sie lässt in besagter Szene die Kamera ohne weitere dramatische Unterstützung sehr lange auf Ella Rumpf ruhen. Wie allmählich ihre Körperspannung immer stärker sichtbar wird, wie sich ihr Gesicht in Ungläubigkeit verwandelt, ohne dabei einen Muskel bewegen zu müssen. Als Marguerite verspricht Ella Rumpf in dieser Szene so viel mehr, als der Film am Ende umsetzen und bieten kann. Die junge Frau, ohnehin ein Novum in der Mathematik, bricht Aufgrund des für sie als Demütigung empfundenen Rückschlags mit ihrem Professor, mit der Uni, und ihrer bisherigen Arbeit. Marguerite öffnet sich dem Leben.
Ihre neue Mentorin wird Noa, eine Tänzerin mit Geldnot, der eine Untermieterin mit viel Erspartem sehr gelegen kommt. Durch Noa beginnt Marguerite neugierig zu werden. Sie geht Tanzen, arbeitet in einem Mini-Job, und hat zum ersten Mal Sex. Das in diversen Szenen immer wieder ein keltisches Wackelbrett auftaucht, ist dabei kein wirklich subtiles Stilmittel. Das Wackelbrett ist ein elliptisches Holzstück, welches man nur in eine Richtung kreisen lassen kann. Versucht man es anders herum, wechselt es selbstständig wieder in die vorbestimmte Richtung. Marguerites ungewohnter Lebenswechsel wechselt vorhersehbar wieder zu der für sie bestimmten Goldbachschen Vermutung.
Anna Novion hat mit ihrer titelgebenden Figur keinen uninteressanten Charakter entworfen. Die verschlossenen Genies, die sich selbst genug sind, haben das Kino schon immer zu Höhenflügen inspiriert. Deswegen der anfängliche Vergleich mit Turning und Nash, bei denen die Verfilmungen IMITATION GAME oder A BEAUTIFUL MIND auf höchsten, manipulativen Mainstream-Niveau richtig packend ansprechen und mitreißen. Und sie werden von exzellenten Darstellern unterstützt. Dieser Film hat nur seine Darstellerin. Wie sich Rumpf von der spröden Introvertierten zur attraktiven Initiatorin wandelt, und daraus eine vollkommen neue Figur schafft, ist hinreißend.
Es ist die Umsetzung des grundlegenden Themas, an dem der Film immer wieder hängenbleibt. Es wird nicht annähernd verständlich was Marguerite in endlosen Formelreihen an die Tafeln und die Wände schreibt. Novion macht die Goldbachsche Vermutung zum treibenden Element, ohne die Probleme bei der mathematischen Annäherung visuell, textlich oder metaphorisch vermitteln zu können. Auf der Leinwand wird die Mathematik auf beliebig wirkende Formeln reduziert. Später wird Marguerite mit ihren mathematischen Fähigkeiten bei illegalen Mahjong-Runden in den Hinterzimmern asiatischer Geschäfte ihr Geld verdienen. Was als nettes Gimmick funktioniert.
Aber die Regisseurin stößt bei dem Mahjong-Element in der Handlung auf das gleiche Problem. Wer die wirklichen Regeln bei dem Klötzchen-Spiel nicht versteht, begreift auch nicht die Genialität in Marguerites Spielgewinnen. Somit bleibt einem auch verschlossen, wo die im Verstand wirbelnden Goldbach-Formeln und die dargestellten Mahjong-Spiele ihre dramaturgische Verlinkung finden. Die Filmemacherin vermag nie das Wesen und den Charakter von Marguerite und ihre Leidenschaft voneinander zu trennen. Wenn fundamentale Komponenten unverständlich bleiben, wird es durchweg schwierig, den Film als eine komplexe Einheit zu erleben, wie es offenkundig angedacht schien.
Für eine spannendere Erzählung hätte Anna Novion andere Stilmittel finden müssen, um das Dilemma ihre Figur plastischer zu gestalten. Die Nebendarsteller sind jedenfalls keine große Bereicherung, deren Rollen nur nach Bedarf Einfluss auf die Handlung nehmen dürfen. Selbst Jean-Pierre Darroussin, Darsteller in allen bisherigen Filmen von Novion, wird als Professor Werner erschreckend kurz gehalten, und zum Stichwortgeber verurteilt. Das der Schluss noch in perfekter Mainstream-Harmonie mit einem unwahrscheinlichen Ende inszeniert wurde, intensiviert die Frage, welche Intentionen Anne Novion tatsächlich mit dieser Geschichte hatte, außer der Präsentation einer fantastischen Ella Rumpf.
Darsteller: Ella Rumpf, Julien Frison, Sonia Bonny, Jean-Pierre Darroussin, Clothilde Courau, Xiaoxing Cheng u.a.
Regie: Anna Novion
Drehbuch: Anna Novion, Mathieu Robin, Marie-Stéphane Imbert, Agnès Feurve
Kamera: Jacques Girault
Bildschnitt: Anne Souriau
Musik: Pascal Bideau
Productionsdesign: Anne-Sophie Delseries
Frankreich, Schweiz / 2023
113 Minuten