JULES
– Bundesstart 01.02.2024
– Release 10.09.2023 (AUS)
Es ist eine schrille Anomalie, dass ausgerechnet der völlig abweichende deutsche Verleihtitel, präziser den Charakter eines Films wiederspiegelt als der Originaltitel. Es ist das Motto von Boonton, Pennsylvania, an dem Milton Robinson in jeder der wöchentlichen Sitzungen des Gemeinderates Anstoß nimmt. ‚A Great Place to call Home‘ wäre leicht missverständlich, als ‚Ort von dem aus man sehr gut zuhause anrufen könnte‘. Milton ist 79 Jahre, verwitwet, und lebt allein auf einem großzügigen Anwesen. Tochter Denise kümmert sich um die bürokratischen Dinge. Der Kontakt zum Sohn ist vor Jahren abgebrochen. Miltons Altersdemenz nimmt zu, was seine Umwelt mit Geduld und Rücksicht wahrnimmt. Und dann crashed eine fliegende Untertassen in Miltons Azaleen-Garten hinter dem Haus. Neben dem Stadt-Motto, eine weitere eine Beschwerde vor dem Gemeinderat. Zur Kenntnis genommen, und abgehakt.
Es ist richtig, dass sich Marc Turtletaub einen gewichtigeren Namen als Produzent von zum Beispiel LITTLE MISS SUNSHINE oder THE FAVOURITE erworben hat. Aber wie in seiner vorherigen Regiearbeit PUZZLE, ist er im inszenieren wesentlich fokussierter auf das Reale im Menschen und das Ehrliche in der Geschichte. Wie auch in JULES, so der Originaltitel seiner jüngsten Inszenierung, selbst wenn darin ein kleines, geschlechtsloses, bläulich schmierendes, außerirdisches Wesen auf Miltons Couch sitzt und CSI schaut. Aber der fantastische Aspekt kann nicht verschleiern, wie clever und aufrichtig der Film sein Kernthema verfolgt. Es ist ein Film über, aber nicht nur für ältere Menschen.
JULES folgt einem schmalen Grat, und das außerordentlich gefühlvoll und ansprechend. Aber mit Witz und Temperament. Auch wenn Ben Kingsley als Milton manchmal einen etwas gesetzteren Eindruck macht. Er realisiert, das seine Synapsen nicht mehr richtig verlinkt sind, und glaubt sein Umfeld täuschen zu können. Das macht ihn etwas behäbig, weil er vergeblich darauf bedacht ist keine Fehler zu machen. Das hält Turtletaub nicht von einer flotten Inszenierung ab. Er gibt seinen Darstellern und ihren Figuren Zeit, ruht sich aber nie der Handlung aus. Und das ist irgendwie auch ein Nachteil des Films, von dem man Anfangs erwaret, eine vergnügliche Science Fiction Komödie zu sehen.
JULES beleibt dennoch vergnüglich. Oberflächlich betrachtet, nennen ihn Stimmen hämisch eine Senioren-Version von E.T.. Das ist aber allen selbstgerechten Borniertheiten zum Trotz, überhaupt nicht negativ zu bewerten. Ganz im Gegenteil, zwar sind beide Filme strukturell sehr ähnlich, bis identisch, aber inhaltlich ist JULES ist explizit auf eine ganz andere Altersgruppe ausgerichtet. Und fantastische Elemente werden bei Zielgruppen über den demografisch wichtigen Altersklassen gerne wegen vorgeblicher Seriosität kaum genutzt. Dabei ist doch Ron Howards COCOON ein Paradebeispiel, wie sensationell man Fantastik ernst zu nehmend mit dem schwierigen Thema des Alterns verbinden kann.
Milton lässt das außerirdische Wesen im Haus wohnen, solange es sein Schiff im Azaleen-Garten repariert. Die Nachbarinnen Sandy und Joyce, beide in gehobenen Alter, sind die einzigen, die eine leichte Veränderung in den sonst streng regulierten Abläufen von Milton erkennen. Und durch Neugierde getrieben, werden sie Verbündete, als sie von dem Geheimnis erfahren. Was allerdings gar kein wirkliches Geheimnis ist. Das sind auch die witzigsten Momente im Film, dass Milton dem Kassierer im Supermarkt, seiner Tochter, dem Gemeinderat, und auch der Polizei von allem erzählt. Und er lädt alle noch dazu ein, sich davon zu überzeugen. So gewinnt der Witz auch ein klein bisschen Trauriges.
Das von Gavin Steckler sehr feinfühlige und ausgewogene Buch, seine erstes Filmscript, haut aber nicht mit dem emotionalen Holzhammer auf die relevanten Themen. Natürlicher Abbau, Einsamkeit, Unverständnis, Bevormundung. Doch am schrecklisten, auch wenn es weniger schlimm scheint, ist die Ignoranz wenn niemand mehr zuhört und verstehen will. Aber es wird kein emotional aufgebauschtes Drama. Meist sind es sogar erheiternde Momente, wenn die Senioren aus sich heraus gehen, erzählen, ihre Gedanken schweifen lassen, wie sie wahrnehmen, von den Jungen bevormundet zu werden. Und immer ist Jules der Auslöser, dass stille Wesen welches unbewegt daneben sitzt.
JULES ist ein Film, der gleichzeitig absurd witzig und bewegend nachdenklich sein kann. Es ist nicht Ben Kingsleys eindringlichste Rolle, doch seine stoische Akzeptanz der eigenartigen Umstände ist dennoch Gold wert. Es geht schließlich um seine Azaleen. Kingsley ist jener Milton, dem alle immer wieder einmal irgendwo auf der Straße, im Café, oder im Supermarkt begegnen, ohne wirklich Notiz von ihm zu nehmen. Doch JULES ist nicht ohne gravierende Mängel. Denn die visuellen Effekte, sowie Makeup und Design von Jules, sind qualitativ Anfang der 1990er einzustufen. Die als selbstverständlich angenommene Absurdität in den jeweiligen Szenen, relativiert das einigermaßen.
Nicht das es essenziell wäre, aber mittlerweile gibt es eben gewisse Standards in den Sehgewohnheiten. Zudem gibt es zwei verstörende Szenen, die Turtletaub durch seine flotte Inszenierung schnell wieder beiseite schiebt. Umso stärker wirken sie in die nach dem Film beginnende Rekapitulation hinein. Aber – seinem Anliegen hat Marc Turtletaub, zusammen mit Gavin Steckler, genügend Gewicht verliehen. Das Publikum wird vielleicht ab und an vom emotionalen Kurs abgelenkt. Doch JULES bleibt noch immer der Film, der keine übertriebenen Sentimentalitäten bemüht, und auch nie Mitleid einfordert, aber sehr gut zum Nachdenken anregt. So wird Boonton, Pennsylvania, dann doch mehr als nur eine Stadt, ‚aus der man sehr gut zuhause anrufen kann‘.
Darsteller: Ben Kingsley, Harriet Sansom Harris, Jane Curtin, Jade Quon, Zoë Winter u.a.
Regie: Marc Turtletaub
Drehbuch: Gavin Steckler
Kamera: Christopher Norr
Bildschnitt: Ayelet Gil Efrat
Musik: Volker Bertelmann
Produktionsdesign: Randall Richards, Cherish M. Hale
USA / 2023
87 Minuten