– Apple TV+ 13.10.2023
Vorausgegangen hat diese Serie mit den ersten Folgen getan, was bei wöchentlich veröffentlichenden Streaming-Plattformen zum Konzept gehört: Es werden Anfangs zwei Folgen veröffentlicht, damit eine ordentliche Portion Appetit erzeugt wird, um dann mit einem atemberaubenden Cliffhanger zu enden. Eine harte Woche an Geduldsprobe bis zur Fortsetzung. Und dann haben die Macher etwas gewagt, was mit Porthos bei STAR TREK: ENTERPRISE ein schweres Versäumnis war – eine Serienfolge aus der Sicht des Hundes zu erzählen. Das ist selbstverständlich sehr riskant für eine Serie die durch Authentizität und Realismus besticht, und nicht wenige Zuschauende werden auch sehr pikiert über diese Entscheidung sein. Letztendlich ist es aber ein überaus genialer Schachzug, um LESSONS vor einer zwangsläufig unerträglichen Melodramatik zu bewahren, ohne die vorangegangene Tragödie zu trivialisieren.
Es war schon in der ersten Folge zu durchschauen, dass der von Elizabeth Zott aufgenommene Goldendoodle Six-Thirty mehr sein sollte, als nur ein freundlicher Begleiter. Für Elizabeth war er zuerst tatsächlich nur der freundliche Begleiter, damit ihr Calvin nicht alleine seine Laufrunden absolvieren musste. Nun ist es Six-Thirty, der sich für das schockierende Schicksal in Elizabeth‘ Leben verantwortlich fühlt. Einhergehend erzählt er von seiner eigenen Vergangenheit, seinem Versagen als Kriegshund. Letztendlich führt das zu Six-Thirtys Selbsteinschätzung, dass er wegen seiner Angstzustände auch die Schuld an Calvins Unfall trägt.
Das Einbinden des Hundes als führenden Protagonisten erweist sich als beeindruckendes Stilmittel. Und die Stimme des unterschätzten Multitalents B.J. Novak macht diesen Kunstgriff mit der einfühlsamen Mischung zwischen Emotion und Zurückhaltung überraschend ansprechend. Die Zuschauenden nehmen an der Schicksalsbewältigung von Elizabeth teil, aber durch die Wahrnehmung aus Hundesicht. Dadurch kann weitgehend auf gefühlsduselige Klischees und überspitzte Emotionen verzichtet werden. Dennoch bleibt man stets nahe an Elizabeth, und begreift sehr mitfühlend ihre Gefühlswelt.
Aber Six-Thirty dominiert nicht die Folge. Elizabeth erkennt das Hastings Research die Forschungen von Calvin und ihr gestohlen hat, und setzt daraufhin einen ganz eigenen Plan in die Tat um. Autor und Regie haben die Gratwanderung zwischen Elizabeth‘ Erstarken und Six-Thirty’s Selbstfindung perfekt ausbalanciert. Die parallel laufenden Entwicklungen verzahnen sich so geschickt, dass die ganze Episode eine sehr komplexe, und einnehmende Dynamik erreicht. Nur die Hoffnung, dass Aja Naomi King als Harriet eine zeitgemäß geerdete Bürgerrechtlerin bleibt, erfüllt sich vorerst nicht.
Richtig aufregend wird es in Teil Vier. Filmtechnisch aufregend, und auch in der Art der Inszenierung. Elizabeth hat ihre unverhoffte Tochter zur Welt gebracht, gefolgt von einer sehr gewagten, für Elizabeth Zott aber logischen Namensgebung. Die Macher wagen erneut zwei überlappende Handlungsstränge, allerdings zeitlich. Und es darf gestritten werden, ob die überaus raffinierte Wendung wirklich notwendig ist, oder überhaupt dramaturgisch Sinn ergibt. Es ist auf alle Fälle erste Klasse in Erzählkunst. Die vermeintliche Täuschung ist eigentlich keine, und erst Recht kein billiges Gimmick.
Die Folge springt erneut in die Zukunft, und beschreibt parallel zu Elizabeths Nöten mit der Fürsorge für ihr Baby, wie ebenjene Tochter sieben Jahre später das Schicksal ihrer Mutter unbewusst lenken wird. Die Zukunft erweist sich eben auch abhängig von Zufällen. Die Kameraführung ist in Folge Vier mitreißend lebendig. Feste Szenenabfolgen sind durch dynamische Bewegungen ersetzt, bei denen die verschiedenen Bildmotive fließend ineinander übergehen. Anstelle reiner Information, schafft die Kamera eine stimmungsvoll einnehmende Begeisterung zu den Vorhaben der Hauptfigur.
Selten gibt es in Serien so beeindruckende Kinoqualitäten wie bei Episode 4, „Primitive Instinct“. Das ist nicht nur Jason Oldaks exzellente Kameraführung. Gleichbedeutend erweitert Geraud Brissons suggestiver Schnitt die unkalkulierbare Natur der Geschichte. Manchmal setzt Brisson seine Perspektivwechsel bewusst so verzögert, um für einen kurzen Moment die Hoffnungen oder Ängste des Publikums herauszufordern. Wie das Beispiel von Harriets erwarteten Heimkehrer eindrucksvoll demonstriert. LESSONS IN CHEMISTRY beweist sich immer wieder als clevere Geschichte mit erfrischend neuen Ansätzen, und raffinierten Variationen bekannter Themen.
Elizabeth Zott ist eine starke Persönlichkeit, die nie die Flagge eines überzogenen Feminismus vor sich hertragen muss, und gerade durch ihre Schwächen noch viel stärker wirkt. Umgeben von einem begeisternden Zeitkolorit, dass die gesellschaftliche Stimmung und Atmosphäre der Zeit ganz nahe bringt. An dieser Stelle der Serien-Halbzeit ist gesagt, was gesagt werden kann. Der Rezensent schließt, und genießt.
Darsteller: Brie Larson, Gus mit B.J. Novak, Lewis Pullman, Aja Naomi King, Stephanie Koenig, Patrick Walker und Derek Cecil, Kevin Sussman, Thomas Mann, Andy Daly, Beau Bridges u.a.
„Living Dead Things“ Episode 3
Regie: Bert & Bertie
Drehbuch: Lee Eisenberg
Kamera: Jason Oldak
Bildschnitt: Geraud Brisson
47 Minuten
„Primitive Instinct“ Episode 4
Regie: Bert & Bertie
Drehbuch: Elissa Karasik
Kamera: Jason Oldak
Bildschnitt: Geraud Brisson
50 Minuten
Serie entwickelt von Lee Eisenberg
nach dem Buch von Bonnie Garmus
Musik: Carlos Rafael Rivera
Produktionsdesign: Catherine Smith
USA / 2023