DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY

Unlikley Pilgrimage 1 - Copyright CONSTANTIN FILMVERLEIHTHE UNLIKLEY PILGRIMAGE
OF HAROLD FRY
– Bundesstart 26.10.2023
– Release 28.04.2023 (UK)

Gesehen beim Kinofest 09.09.2023

27 Jahre nach ihrem Regiedebüt und bislang einzigen Kinofilm, hat Hettie Macdonald zwischen ihrer respektablen TV-Karriere wieder einmal Zeit fürs Kino gefunden. Und das Ergebnis ist eher routiniert als großartig, eher erfüllend statt überraschend. Aber es ist eine Geschichte in der man sich im Tun, Denken und dem Schicksal der Figuren sehr leicht selbst finden kann. Gerade im Kino ist es die nicht unbekannte Geschichte eines gelebten Lebens, in dem die Figur plötzlich aus dem eingefahrenen Alltag ausbricht. Mit einem Augenzwinkern erzählt, und doch bodenständig. Jim Broadbent und Penelope Wilton ist das pensionierte Paar Fry, welches mit stoischer Eintönigkeit seine tägliche Routine wiederholt. Harold bringt den Müll raus, Maureen saugt die Teppiche. Das gemeinsame Frühstück erlebt man schweigend. Bis ein Brief eintrifft. Harolds ehemalige Kollegin Queenie ist in einem Hospiz und wird sterben.

Die Regisseurin erzählt zu Beginn nicht langsam, aber behutsam. Sie gibt dem Publikum ein sehr gutes Gespür für das Verhältnis zwischen den Frys. Und mit dem Brief, erhöht Macdonald ebenso behutsam das Tempo, denn die gemächlichen Ruhe im Haus ist merklich gestört. Es sind kleine Gesten, nur kurze Blicke, oder auch demonstratives Schweigen. Broadbent und Wilton sind Darsteller die keine Worte benötigen, nicht mit einer Regisseurin wie Hettie Macdonald. Das hält die Regisseurin auch bis zum Ende durch, die Zuschauenden stets als Vertraute der Protagonisten einzubinden.

Das bedeutet nicht, dass die Handlung zu viel vorweg nimmt. Doch zu keiner Zeit will der Film mit einem wuchtigen Enthüllungseffekt überraschen. Das man als Publikum der Geschichte immer einen kleinen Schritt voraus ist, nimmt dieser aber lange nicht die Spannung. Harold antwortet der sterbenden Queenie, will den Brief aufgeben, bekommt aber bei einem Zwischenstopp im Mini-Markt einen offenbarenden Rat. Anstatt beim Briefkasten zu halten, läuft Harold einfach immer weiter. Über 400 Meilen von Kingsbridge nach Berwick-upon-Tweed, wo Queenie im Hospiz liegt.

Emotional und in der Grundidee erinnert die Filmadaption von Janet Joyces Geschichte stark an das Timothy Spall Vehikel THE LAST BUS (mit idiotischem deutschen Titel). Doch während Spalls reisender Witwer seinen Blick nach außen richtet, schaut Broadbents Harold sehr tief in sich hinein. Einer Pilgerreise mehr als gerecht. Nach und nach entfaltet sich auf Harolds Weg die Geschichte hinter der Beziehung zu Queenie, und der Vergangenheit des eigenen Sohnes. Wie bei anderen, ähnlichen Filmen, triff Harold dabei auf allerlei illustre Menschen, von denen ihm aber keiner etwas Böses will.

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Aus gutem Grund bleibt das Drama bei Harolds Begegnungen aus, weil es keine Erzählung über das Wesen von Menschen allgemein ist, sondern sich der Blick auf das Innere des Pilgers richtet. Wenn die Kamera immer wieder inne hält und weit schweifend in die Ferne schaut, ist Harold ganz mit sich allein, niemand anderes zu sehen, nicht einmal Zeichen von Zivilisation. Und wie bei anderen, ähnlichen Filmen auch, kann HAROLD FRYs PILGERREISE nicht viel Neues erzählen. Am Ende wird der Weg des getriebenen Helden in einen kathartischen Ausbruch münden, und mentale Fesseln sprengen.

Was HAROLD FRY trotz seiner Klischee beladenen Struktur zu einem ansprechenden Film macht, ist die feinfühlige ausbalancierte Emotionalität. Macdonald verwechselt Andacht nie mit Rührseligkeit, oder Humor mit Unfug. Kluge Dialoge sind nie belehrend, Rachel Joyce lässt in den Dialogen ihrer Figuren auch subjektiven Spielraum für das Publikum. Aber das entwickelt seine unaufdringliche Anziehungskraft erst durch sein exzellentes Ensemble. Hier erweist sich leider Daniel Frogson darstellerisch und in Charakterzeichnung mit seinem kleinkriminellen Wilf als uninteressantestes Element.

Aber dies ist ohnehin Jim Broadbents Film. Die Regie lässt daran inszenatorisch keinen Zweifel. Denn erst durch Broadbent besticht die Figur mit ihrer fühlbaren Zerrissenheit über die eigenen Gefühle. Harold ist einer, der sich einfach wegdreht, wenn er nicht mehr weiter weiß. Einer der sich schwer tut, nein zu sagen, dies aber ändern muss, um seinen Weg zu Ende gehen zu können. Die wieder einmal wunderbare Penelope Wilton ist als Maureen ein ebenbürtiges Gegengewicht, wenn sie mit Harolds spontaner Pilgerreise hoffnungslos überfordert wird. Keifend, ängstlich, verunsichert.

Wilton verdeutlicht mit sehr fokussiertem Spiel, dass sie mit vielen harschen Worten ihren Mann zum Teufel wünschen kann, aber keine Worte braucht, um zu zeigen, dass sie ihre Ehe nicht wirklich aufgeben will. DIE PILGERREISE DES HAROLD FRY ist eben auch eine stimmige Betrachtung über einen notwendigen Bruch, um wieder zurückzufinden.

Unlikley Pilgrimage 3 - Copyright EMBANKMENT FILMS

 

Darsteller: Jim Broadbent, Penelope Wilton, Joseph Mydell, Monika Gossmann, Earl Cave, Linda Bassett, Daniel Frogson u.a.
Regie: Hettie Macdonald
Drehbuch: Rachel Joyce, nach ihrem Roman
Kamera: Kate McCullough
Bildschnitt: Jon Harris, Napoleon Stratogiannakis
Musik: Ilan Eshkeri
Produktionsdesign: Christina Moore
Großbritannien / 2023
108 Minuten

Bildrechte: CONSTANTIN FILM / EMBANKMENT FILMS
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