AVEC AMOUR ET ECHARNMENT
a.k.a. FIRE
a.k.a. BOTH SIDES OF THE BLADE
– Bundesstart 13.07.2023
Was ist Wirklichkeit, was ist Phantasie. Ist es Lüge, oder Wahrheit. Selbstbetrug oder Ehrlichkeit. Schon lange vor dem New Hollywood Ende der Sechziger, hat die Nouvelle Vague das Kino auf den Kopf gestellt. Und Frankreich hat sich dieses Erbe mit seinen Filmemachern bis heute ungeschlagen bewahrt. Claire Denis ist eine dieser Nachkommen von Rohmer, Cabrol oder Godard, die schlichtweg ihr Ding machten. Der Titel, im Original wie im Deutschen, ist gleichsam Ausdruck ihrer Energie für diesen Film. Wirklichkeit, Phantasie, Lüge, Wahrheit, Betrug, Ehrlichkeit. Seit zehn Jahren sind Sara und Jean zusammen. Ein Paar, welches in seiner Leidenschaft wortwörtlich nicht die Hände voneinander lassen kann. Dann meldet sich François, dass erste mal nach zehn Jahren. François war Jeans bester Freund. Und François war mit Sara zusammen, die ihn damals für Jean verlassen hat. Nach nur zehn Minuten Leidenschaft, wechselt die Regisseurin radikal die Stimmung.
Es ist keine leichte Kost, die Claire Denis serviert. Nach und nach gibt es Häppchen, wer wie was getan hat, oder welche Konstellationen an Beziehungen und Verhältnissen vorangegangen sind, oder vorherrschen. Jean hat einen schwarzen Sohn aus erster Ehe. Sara ist Radiojournalistin, mit soziopolitischem Schwerpunkt. Jean war einige Zeit im Gefängnis, niemand weiß warum. Aber all das ist Status Quo, ohne weiterführende Erklärung. Claire Denis fordert das Publikum, sich die Figuren selbst zu erarbeitet.
Claire Denis bleibt auf ihren Protagonisten, auf Sara und Jean. François spielt eine wichtige Rolle, bleibt aber stets außen vor. Der Konflikt steht nur zwischen dem Paar, das zu Anfang noch verträumt und verliebt im strahlend blauen Meer schwamm. „Ich habe heute François gesehen,“ gesteht Sara in die traute Zweisamkeit. Es bringt zuerst Jean aus der Fassung, kurze Zeit später auch Sara. Denn wie sie Jean gestehen muss, erlischt selbst eine alte Liebe nie wirklich. Aber gleichzeitig beschwört sie ihre Beziehung zu ihm.
Noch bevor es die Figuren selbst wirklich erfassen, zeigt uns Claire Denis eine andere, bisher verdrängte Wirklichkeit. Eric Gautier hat die Kamera auf der Schulter. Manchmal sind dadurch die Bilder viel zu verwackelt, aber grundsätzlich ist er dabei sehr nah an Juliette Binoche und Vincent Lindon. In den Streitgesprächen gibt es meist keinen Schnitt. Teilweise ist es sogar unangenehm, wie groß die Gesichter das Bild ausfüllen. Jede Nuance in der Mimik wird sichtbar, jeder noch so flüchtig ausweichende Blick bemerkt.
Sollte die Kameraführung unangenehm werden, ist davon auszugehen, dass es ein bewusstes Mittel ist. Das Publikum bekommt Möglichkeiten angeboten, muss aber für sich selbst herausfinden, wo die Beteiligten in der Beziehung steht. Jean wird mit François eine Sportagentur gründen. Sara hingegen, trifft sich heimlich mit dem vermeintlichen Ex-Liebhaber. Die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit ist aufgehoben? Aber jede Aussprache zwischen Sara und Jean steigert nur das Misstrauen und nährt die Selbstzweifel.
Was die emotionalen Kraftpakete Binoche und Lindon schaffen ist, ihre Liebe zu einander immer aufrecht zu erhalten. Sie lassen nie Zweifel an der Bindung zum anderen. Das macht beider Unsicherheiten und Aggressionen fast schon schmerzhaft intensiv. Binoche eine aufbrausende, lautstarke, und verzweifelte Urgewalt. Lindon ein in sich gekehrter, überlegter, meist melancholischer Ruhepol. Dennoch komplettieren sich diese Figuren, sie bilden eine Einheit aus Gegensätzen. Die Bedeutung von François wird zum Mysterium.
Die Umgebung, in der sich die Protagonisten bewegen, verschwimmt im Bild. Die Kamera ist nicht an Ausstattung interessiert. Die vielfach genutzte Terrasse zeigt nur benachbarte Gebäude ohne Leben. Das Schlafzimmer ist weiß, ohne Accessoires. Die Eröffnungsfeier zeigt viele Menschen, aber kaum erkennbare Gesichter. Der Film ist Sara und Jean. Das Gefühl trügt nicht, dass in dieser Situation, in diesen Momenten, einzig Juliette Binoche und Vincent Lindon die Geschichte tragen und funktionieren lassen können.
Ob Jean wirklich so verletzlich ist, oder Sara ihn nur anlügt, dass ist ein schwerer Diskurs. Ist François am Ende nur eine Phantasie, von beiden ersonnen, um neue Perspektiven für ihre Beziehung zu finden? Claire Denis hat dies merklich mit Liebe und Entschlossenheit in eine spannende Erzählung gepackt. aufwühlend, interessant, aber auch anstrengend und fordernd. Eine sehr intensive Erfahrung die mitnimmt, in beiden Bedeutungen des Wortes. Ärgerlich nur, dass die Filmemacherin ihre interessanten Nebenfiguren so sträflich vernachlässigt.
Darsteller: Juliette Binoche, Vincent Lindon, Grégoire Colin, Bulle Ogier, Issa Perica u.a.
Regie: Claire Denis
Drehbuch: Claire Denis, Christine Angot
nach dem Roman von Christine Angot
Kamera: Eric Gautier
Bildschnitt: Sandie Bompar, Guy Lecorne, Emmauelle Pencalet
Musik: Stuart Staples, Tindersticks
Produktionsdesign: Arnaud de Moleron
Frankreich / 2022
116 Minuten