Grundlage für die Besprechung ist die amerikanische DVD-Fassung, welche sich abgesehen von der Sprache, nicht von der deutschen Kinofassung unterscheiden sollte:
Das amerikanische Publikum weigert sich vehement dagegen, synchronisierte Filme anzusehen. Eigentlich ein feiner Zug, wäre da nicht die unangebrachte, aber ebenso vehemente Weigerung, Filme mit Untertitel zu akzeptieren. Mit Ausnahme des Arthouse-Publikums vielleicht, aber das ist bekanntlich verschwindend gering im Vergleich zum umsatzbringenden Mainstream. Dies lässt so verwirrende Stilblüten wachsen, wie die französische Produktion „Mein Vater, der Held“ mit Gerard Depardieu, die drei Jahre später in Amerika neu verfilmt wurde, ebenfalls mit Depardieu. Und Gerard Lauzier als Autor, der bereits das Original verfasst hatte. Den spanischen Überraschungsschocker „REC“ brachten die Amerikaner erst gar nicht in die Kinos, sondern lieferten 12 Monate nach dessen Premiere gleich das Remake, während die DVD des Originals nach dem Kinostart des Remakes verhökert wurde.
Erst drei Jahre ist es her, dass die verschworene Horrorfilm-Weltgemeinschaft auf die zauberhafte Perle „So finster die Nacht“ aus Schweden aufmerksam wurde. Mit nur 53 Kinos und einem Ergebnis von etwas über 2 Millionen Dollar hat auch „So finster die Nacht“ den widerborstigen Geist des amerikanischen Publikums heraufbeschworen. Selbst für einen Nischenfilm sind diese Zahlen so finster wie die Stimmung des Films selbst. Zwei Jahre brauchte die französische Produktionsgesellschaft Wild Bunch für die amerikanische Fassung, aber ob es sich gerechnet hat, sei dahingestellt. Ob man diesen Film gebraucht hat, ist dagegen eine ganz andere Frage.
Los Alamos/New Mexico, eine dicke Schneedecke bedeckt die Landschaft. Schon diese ersten Bilder reißen den Zuschauer aus seinen liebgewordenen Sehgewohnheiten. Tatsächlich schneit es bis in den März hinein in New Mexico, nur hat das bisher kein Film aufgegriffen. New Mexico ist das heiße, stickige Wüstenland, welches wir aus unzähligen Filmen bereits kennen. Dies wird also nicht unser altbewährter Horrorfilm. Matt Reeves bleibt als Autor und Regisseur dem Original so weit treu, dass er das Publikum herausfordert, es verwirrt und tatsächlich eine Stimmung erzeugt, die man für gewöhnlich als „europäisch“ bezeichnen würde.
Der zwölfjährige Owen ist ein stiller Außenseiter, der für gewöhnlich in der Schule drangsaliert wird. Ohne Freunde hängt er stets allein am Klettergerüst inmitten der tristen Mittelstandssiedlung ab. Bis in die Nachbarwohnung die vermeintlich gleichaltrige Abby einzieht mit ihrem ebenso vermeintlichen Vater. „Wir können niemals Freunde sein“, ermahnt sie Owen gleich am ersten Abend, von dem an sie sich jeden Abend treffen. Immer nur bei Dunkelheit. Und wer sich bei Filmen leicht ablenken lässt, egal wie spannend und einnehmend sie sind, der wird sich fragen, wie die Macher es verdammt nochmal hinbekommen haben, dass bei Owen stets dicke Atemwolken aufsteigen, während bei Abby überhaupt nichts zu sehen ist. In der gleichen Einstellung!
Selbst wer unvorbelastet diesen Film sieht, wird nicht sehr lange brauchen, um Abbys Schicksal herauszufinden. Nur einmal fällt während des Films das Wort Vampir, aber da ist es längst nebensächlich geworden. Es ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Natürlich eine etwas andere Geschichte über das Erwachsenwerden, aber dafür umso eindringlicher und origineller erdacht. Matt Reeves lässt seinen Film von Greig Fraser in kalte, stahlblaue Bilder tauchen. Nur in den ruhigen Momenten der Annäherung zwischen Abby und Owen gönnt der Szenenbildner Fraser dem Zuschauer einen in die Irre führenden rötlichen Farbton.
Aber „Let me in“ ist nicht einfach nur eleganter Stil, sondern eine ebenso elegante Verbindung aller filmischen Aspekte. Ob Kamera, Schnitt, Darsteller oder Rhythmus, alles fügt sich zu einem überraschend stimmungsvollen Ganzen. Und für das jammernde Volk der Schmuse-Vampir-Gegner bringt „Let me in“ wieder einmal eine gehörige Portion stimmungsvollen Horror, der es weitgehend versteht, die genreüblichen Klischees zu vermeiden. Obwohl der Film von zwei pubertierenden Kindern handelt, ist dies keine für fröhliche Gruselstunden ausgelegte Teenager-Unterhaltung. Matt Reeves hat in seine eigene Interpretation des Stoffes so viel Anspruch gestellt, dass er tatsächlich nicht nur dem Original gerecht wird, sondern dem Original sogar noch weitergehende Aspekte abgewinnen kann.
Mit Kodi Smit-McPhee hat „Let me in“ sicherlich den perfekten Verlierertypen gefunden. Seine von ihm ausgespielte Figur gibt der Grundgeschichte den denkbar günstigsten Anstrich, damit der Film funktioniert. Aber wie in allen Filmen, in denen man sie bewundern darf, ist auch hier Chloe Grace Moretz der unumstrittene Augenfang. Ihr Jahrhunderte alter Charakter ist keine alte Frau gefangen in einem jugendlichen Körper, sondern eine seit Jahrhunderten im Alter von zwölf Jahren stehengebliebene Figur. Moretz kann dies vermitteln, diese altersweise Überlegenheit, aber gleichzeitig kindliche Verletzlichkeit. Und nebenher hat man Elias Koteas noch nie in einem derart realistischen, abgehalfterten Make-up erlebt.
Owen muss sich in einem Schulprojekt mit „Romeo und Julia“ auseinandersetzen, das in der Version von Franco Zeffirellis Verfilmung in der Schule auch vorgeführt wird. Der Vergleich scheint nur auf den ersten Blick weit hergeholt zu sein. Aber ein vermeintlicher Vampir und ein unscheinbarer Verlierer liegen näher am thematischen Grundtenor von Shakespeares Drama. Komponist Michael Giacchino scheint das Thema von Nino Rota aus seiner `68er Filmfassung von „Romeo und Julia“ förmlich inhaliert zu haben, wenn man die musikalische Untermalung zu diversen Szenen zwischen Abby und Owen vernimmt.
Wenn ein Produzent ein vorschnelles Remake für den amerikanischen Markt ankündigt, unter dem Vorwand, diesen sehenswerten Stoff dem heimischen Markt zugänglich zu machen, dann sollte man diese Absichten ernst nehmen. In erster Linie will ein Produzent Geld verdienen, das sollte man ihm nicht nehmen. Dafür bringt er tatsächlich einem verweigerungswilligen Publikum ab und an einen wirklich sehenswerten Stoff näher, auch wenn der Rest des Cineastentums aufschreien möchte. Im Falle von „Let me in“ verkommt dieser Aufschrei zu einem unverständlichen Gemurmel.
Es ist nicht nur darstellerische Bravour, die zu bewundern ist, sondern auch das Gemüt befriedigende Schocksequenzen, die exzellent umgesetzt wurden. „Let me in“ ist ein Horrorfilm, der nicht nur Neues bietet, sondern dieses Neue auch perfekt verkauft. Man muss keine belastenden Vergleiche zu einer vorangegangenen Verfilmung ziehen, um diesen Film etwas abgewinnen zu können. Trotz Remake versteht er es sogar, sich diesen Vergleichen auf sehr geschickte Weise zu entziehen. Wenn Arthouse von Mainstream gebissen wird, ist das nur im Sinne des Betrachters.
Darsteller: Kodie Smit-McPhee, Chloe Grace Moretz, Richard Jenkins, Elias Koteas, Cara Buono u.a.
Regie, Drehbuch: Matt Reeves, nach dem Film “So finster die Nacht“
Kamera: Greig Fraser
Bildschnitt: Stan Salfas
Musik: Michael Giacchino
Produktionsdesign: Ford Wheeler
USA /2010
zirka 116 Minuten