– Bundesstart 26.01.2023
Selten wird man von einem Film wirklich unvermittelt in der Magengrube getroffen. Noch seltener ist ein Film, der in einer derartig konsequenten Geradlinigkeit und ballastfreien Erzählweise so eindringlich nachwirkt. Regisseur Josef Kubota Wladyka ist japanisch-polnischer Abstammung, Hauptdarstellerin Kali Reis ist indigene Amerikanerin mit kapverdischen Wurzeln. Es war Reis’ Idee, die Hauptfigur auf die Suche nach ihrer Schwester zu schicken, um diese aus der Hand eines Mädchenhändlerrings zurückzuholen. Händler, die sich auf junge, aber hauptsächlich indigene Mädchen spezialisiert haben. Später wird einer der Verbrecher sagen, „glaubst Du wirklich, dass ich mich an ihre Namen erinnere?“ Da hat dieser Film schon lange den Pfad des Thrillers verlassen, schlägt damit aber noch einmal richtig zu. Der Verbrecher sagt es nicht trotzig, nicht verächtlich, er bittet mit Selbstverständlichkeit um Nachsicht.
Kali Reis wurde 2016 Box-Champion im Mittelgewicht, ihre Kaylee alias K.O. war Champion im Weltergewicht. Kaylee gibt sich die Schuld, dass ihre Schwester Weeta von der Straße weg entführt wurde. Jetzt lebt Kaylee im Frauenhaus, als Bedienung verdient sie schlecht, und trainiert nur noch speziell dafür, sich in kriminellen Kreisen angemessen körperlich wehren zu können. Es ist für jeden Filmemacher riskant, eine ungelernte Schauspielerin in der Titelrolle zu besetzen, die eine so schwierige Gratwanderung zwischen brisantem Drama und elektrisierendem Thriller zu bewältigen hat.
Schwierig daran ist, das Thema im Vordergrund zu halten und nicht als willkürliche Action-Dekoration verkommen zu lassen. Wladyka hatte sich für die Bewegung ‚Missing and Murdered Indigenous Women and Girls (MMIWG)‘ interessiert, die sich um das Thema vermisste oder ermordete indigene Frauen verdient macht. Eine Angelegenheit die nicht einfach nur für den Film so eindringlich behandelt wird. Mit wenigen Mausklicks wird verständlich, dass Gesellschaft und vor allem Behörden wenig Interesse am Schicksal dieser Frauen haben. Bei seinen Recherchen traf der Filmemacher auf die Boxerin.
Herausragend im Film ist seine sensible Zurückhaltung. Reis hat sich die Rolle als Alter Ego auf den Leib geschrieben. Und ehrlich ausgesprochen: Es ist unerwartet, was für eine künstlerische Glanzleistung sie vollbringt. Ohne viel Erklärung, ohne ermüdendes Drama wird die Zuschauerin und der Zuschauer in die stolperfreie Handlung herangeführt. Und in fast kühler Präzision, technisch wie inszenatorisch, durch den Ablauf gebracht. Die meisten Szenen spielen Nachts, es herrscht stets winterliche Eiseskälte. Kameramann Ross Giardina, ebenfalls Spielfilm-Debütant, bestimmt mit fast monochromatischen Bildern die Atmosphäre.
Kontaktpersonen ausfindig zu machen geht für die indigene Kaylee schnell. Und noch einfacher ist es, als potentielle Sexsklavin im Katalog aufgenommen zu werden. Seine nervenaufreibende Atmosphäre baut Josef Kubota Wladyka nicht mit stilisierten Spannungsmomenten auf, sondern mit seiner erschreckend nüchternen Erzählstruktur. Dazu kommt eine vermeintliche Heldin, die weder mit tosendem Gebrüll in die Schlacht zieht, noch als eiskalt berechnender Racheengel auftritt. Kaylee hat Angst, das macht sie sehr vorsichtig, was sie wiederum sehr gefährlich werden lässt.
Immer wenn sich eventuellen Spuren von Weeta auftun, läuft Kaylee gleichzeitig Gefahr enttarnt zu werden. Was sie im Verlauf an körperlicher Kraft und taktischem Geschick anwendet, sind keine verwegenen Blaupausen von Action-Helden. Es fällt angenehm auf, dass die Macher uns auch explizit gezeigt haben, wie sich Kaylee genau für diese Situationen vorbereitet hat. Daraus resultierend, ist es umso überraschender, dass sie dennoch auch straucheln oder scheitern darf. Immer wieder geht die Handlung einen etwas anderen Weg, als ihn herkömmliche Action-Thriller nehmen würden.
Was sich wie ein kleines, unscheinbares Drama ausnimmt, entwickelt sich zu einer großen Sache. Das ist zu gleichen Teilen dem faszinierend intensiven Spiel von Kali Reis und der effektiven Inszenierung von Josef Kubota Wladyka zu verdanken. Allerdings geht die immer unter Strom stehende Atmosphäre auch von allen Figuren aus. Kein Protagonist ist wirklich nach Stereotyp ausgelegt, sie alle haben eine individuelle Persönlichkeit, die auf den gesamten Film gesehen, sehr viel mehr Tiefe in die Handlung bringt.
Der Regisseur beweist sich als eindringlicher Erzähler, der nicht nur stets den exakten Punkt für angemessene Atmosphäre trifft, sondern auch ein effektives Gespür für szenischen Aufbau und genaues Tempo beweist. Und er versteht auch sehr gut, den primären Gedanken der Geschichte so einzupacken, dass er nicht als Effekthascherei missverstanden wird oder die Zuschauenden mit moralischer Aufdringlichkeit überfordert. Der Effekt ist, dass es weit eingehender berührt. So wird sich spätestens bei der Rekrutierungssequenz in den Motelzimmern vor Abscheu der Magen umdrehen.
Darsteller: Kali Reis, Daniel Henshall, Tiffany Chu, Kevin Dunn, Michael Drayer, Lisa Emery, Kimberly Guerro u.a.
Regie & Drehbuch: Josef Kubota Wladyka
Kamera: Ross Giardina
Bildschnitt: Benjamin Rodriguez Jr.
Musik: Nathan Halpern
Produktionsdesign: Alan Lampert, Olivia Peebles
USA / 2021
85 Minuten