GLASS ONION: A Knives Out Mystery

Glass Onion - Copyright NETFLIX– Kinostart 23.11.2022
– Netflix seit 23.12. 2022

Schon im Erstling BRICK zeigte Rian Johnson was ihn da, und später noch einfühlsamer, als Regisseur auszeichnet. Das ist der Ensemble-Film. Daniel Craig war seinerzeit ein vermeintlich sicherer Lauf als KNIVES OUT gedreht wurde, es war aber die bravourös gewählte Mischung von Jung- und Altstars, die dem Film seinen unverwechselbaren Charakter gab. Und weswegen sprach auch das Publikum darauf an. GLASS ONION kann nicht mit dieser grandiosen Altersverteilung unter den Zugpferden aufwarten, was allerdings auf die Geschichte zurück geht. Nichtsdestotrotz wäre es ein sehr schwacher Punkt den jemand bemängeln könnte. Selbst wenn sich Rian Johnson strikt an die, eigentlich, dumme Hollywood-Regel von „Höher-Schneller-Weiter“ hält. Johnson kommt damit nicht einfach nur durch, sondern gewinnt auf ganzer Strecke.

Mit Steve Yedlins sonnendurchfluteten Bildern, wo die Farben durch die strahlende Lebensfreude schon nahe am ausbleichen sind, begibt sich der britische Detektive mit amerikanischem Südstaatenakzent auf die Privatinsel eines selbstgefälligen Tech-Milliardärs. Yedlin hat bereits in KNIVES OUT den über Generationen verwöhnten Geldadel mit wunderbarer, gedrückter Landhausatmosphäre unterstrichen. Jetzt hat sich die Geschichte auf die moderne Typus von Millionären verlegt, dem schnellen Geld durch etwas Innovation, viel Glück und noch mehr Skrupellosigkeit.

Mit jeder Einstellung generiert Steve Yedlin für den Zuschauenden ein berauschtes Szenario von Idyll, Luxus und Komfort einer griechischen Privatinsel. Das szenische Konzept, in ein komplett anderes Setting auszurichten, gehört zum Entwurf sich nicht wiederholen zu wollen, wo es zu verhindern ist. Ältere unter den Zuschauenden könnten sich noch an den Beatles Song ‚Glass Onion‘ erinnern, an dessen Bedeutung sich Rian Johnson in Drehbuch und auch Inszenierung orientiert. So kommt auch Detektiv Benoit Blanc nicht umhin, seinen Mordfall mit der gläsernen Zwiebel gleichzusetzen.

Es scheint nur so, als müsse man nach und nach alle Schalen der Zwiebel abziehen, um der Lösung näher zu kommen. Aber wie bei einer gläsernen Zwiebel, wäre die Wahrheit schon ständig sichtbar. Sieben Leute hat Milliardär Miles Bron auf seine Privatinsel geladen. Alte Freunde aus unbeschwerten Tagen, jeder für sich die Erfolgsleiter hoch gestiegen. Wieso allerdings auch Benoit Blanc eine Einladung erhalten hat, der mit keinem dieser Leute in irgend einer Form bekannt ist, wäre die erste Schale dieser Zwiebel. Vielleicht wegen des Murder-Mystery-Spiels, bei dem der Gastgeber ermorden werden soll.

Johnsons rasante Inszenierung erfordert volle Aufmerksamkeit. Fast jede Szene enthält einen Hinweis, welcher im weiteren Verlauf richtungsweisend sein wird. Sei es eine Bemerkung, eine Handlung, ein Accessoire, ob unauffällig oder aufdringlich dargeboten. Die Zuschauenden werden nicht übers Ohr gehauen. Jede noch so absurde Theorie oder überraschende Wendung lässt sich nachvollziehen. Wenngleich die Grundstruktur ganz offensichtlich von Agatha Christie entliehen ist, kann Rian Johnson etwas ganz eigenständiges daraus formen, weil er die Struktur um einige Ebenen erweitert.

Johnson hat in seinem Cousin Nathan einen Bruder im Geiste gefunden, der fünf von Rians sechs Spielfilmen mit Musik untermalte. Musikalisch zitiert Nathan Johnson am auffälligsten Nino Rotas Komposition zu dem Hercule Poirot Krimi TOD AUF DEM NIL. Beide Johnson lassen also nicht vergessen, wem diese Art von Geschichten und Filmen geschuldet ist. Aber GLASS ONION ist dahingehend anders, dass er mit seinen Rückblenden nicht etwa den aktuellen Wissensstand rekapituliert, sondern damit die bisher bekannte Geschichte vollkommen auf den Kopf stellt.

Glass Onion 2 - Copyright NETFLIX

 

Wie die Handlung von ihren vielen Schalen an Irrungen und Wendungen zusammengehalten wird, funktioniert auch der Film durch seine viele Schichten von künstlerischer Geschlossenheit die das Werk umschließen. Allen voran das gesamte Ensemble an Darstellern. Als vernehmlich bester Detektiv der Welt ist natürlich Craig bei der Lösung eines überraschenden Mordfalles ganz vorne angestellt, tritt aber immer wieder nach hinten ab, um jeder Figur angemessenen Freiraum zu geben. Rian Johnson beweist ein außergewöhnliches Gespür, jede Szene wirklich individuell auf den entscheidenden Charakter auszurichten.

Ob Kathryn Hahn, Edward Norton oder Kate Hudson, sei es Bautisa, Odom und Henwick. Sie legen soviel Spielfreude in ihre Rollen, das es förmlich ansteckt. Johnson hat jede Figur wirklich einzigartig und individuell gezeichnet, und jeder bleibt auch in jedweder Lage dem Wesen seines Charakters verbunden. Dabei sollte der Rezensent nicht so sehr in die Tiefe gehen, weil es nicht nur eine große Freude, sondern auch ein entscheidender Faktor ist, diese so unterschiedlichen Typen im Laufe immer besser kennen zu lernen.

In einer Szene erklärt Miles Bron wie die alten Freunde früher als Gruppe funktionierten, und wie sie zu ihrem Spitznamen The Disrupters kamen. Man bekommt das beklemmende Gefühl, Edward Norton würde unter dem Deckmantel seiner Figur eigentlich über sich selbst reden. Über seinen selbstzerstörerischen Drang sich nie den Produktionsbedingungen anpassen zu wollen, was ihm nicht nur eine sehr üble Reputation einbrachte, sondern auch etliche gute Rollen kostete. Was hier als Spekulationen deklariert werden muss, würde sehr gut in das vielschichtige Konzeption von Rian Johnson passen.

Auch wenn Vergleiche selten schicklich sind, muss man innerhalb aller objektiven Bestrebungen zugestehen, dass GLASS ONION nicht zwangsläufig der bessere Film ist, aber er ist wesentlich dynamischer inszeniert, abwechslungsreicher auf allen Humorstufen, und auf Handlungsebene ein vielfaches komplexer. Johnson springt in den Zeiten hin und her, dass einem schnell schwindlig werden kann, zumindest ist man unentwegt gefordert die vielen Hinweise und Indizien immer und immer wieder neu zu ordnen. Und dann ist da diese völlig unerwartete Auflösung, die trotz ihrer ungewöhnlichen Form der inneren Logik gehorcht.

GLASS ONION: A KNIVES OUT MYSTERY ist für ein Streamingportal schon wegen der fabelhaften Bildgestaltung und dem Kino bedingten Kollektiverlebnis absolut verschenkt. Und selbst eine eingeschränkte Kinolaufzeit kann nur wenig Publikum generieren, wenn die Streaming-Bereitstellung schon vier Wochen später zur besten Feiertagszeit propagiert wird. Erstes Semester Marketing-Psychologie. Schade um die vergeudete Chance.

Glass Onion 1 - Copyright NETFLIX

 

Darsteller: Daniel Craig, Edward Norton, Kathryn Hahn, Leslie Odom Jr., Kate Hudson, Dave Bautista, Jennifer Henwick, Madelyn Cline, Janelle Monáe sowie Noah Segan
Regie & Drehbuch: Rian Johnson
Kamera: Steve Yedlin
Bildschnitt: Bob Ducsay
Musik: Nathan Johnson
Produktionsdesign: Rick Heinrichs
USA / 2022
140 Minuten

Bildrechte: NETFLIX
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Im Fernsehen gesehen, Im Kino gesehen abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar