LOS CHOSES HUMAINES
a.k.a. THE ACCUSATION
– Bundesstart 03.11.2022
Ist ‚Nein‘ auch dann unmissverständlich, selbst wenn es nicht artikuliert wird? In seinem siebten Spielfilm geht Autorenfilmer Yvan Attal dieser Frage nach, der schon so viele anderen vor ihm nachgegangen sind. Das Thema ist also nicht neu, kann aber auch nicht oft genug behandelt werden. Deswegen ist Yvan Attal nicht einfach einer von vielen, sondern nach wie vor einer von den Wichtigen. Sein Film, nach dem vielfach prämierten Buch von Karine Tuil, erzählt nicht einfach. Er nimmt die Zuschauenden mit, aber nicht behutsam. Hat der 22-jährige Alexandre Farel die 17-jährige Mila Wizman vergewaltigt? Alles spricht dafür, vieles spricht dagegen. MENSCHLICHE DINGE ist kein einfacher Diskurs, weil er die Frage nicht auf den zwei maßgeblichen Protagonisten beruhen lässt.
Kameramann Rémy Chevrin hat mit Attal schon des Öfteren zusammen gearbeitet, weshalb sie sich in Inszenierung und Bildgestaltung so gut ergänzen. Der stahlblaue Grundton der Bilder gibt dem Film eine neutrale, manchmal sogar nüchterne Atmosphäre. Die Kamera wahrt immer einen gesunden Abstand zu den Figuren. Aber sie entfernt sich auch nie so weit, um eine unterbewusste Distanz zu den Akteuren zu erzeugen. Die wenigen Close-ups sind auch nie manipulativ.
Alexandre ist aus dem Studium in Amerika nach Frankreich gekommen. Sein Vater Jean, ein angesehener und einflussreicher Journalist, soll einen staatliche Orden verliehen bekommen. Alexandres Mutter Claire hat es als aktive Feministin ebenso weit in der Gesellschaft gebracht. Sie ist von Jean getrennt, und lebt mit Adam und seiner Tochter Mila zusammen. Es ist Claires Idee, Alexandre solle doch Mila auf eine Party mitnehmen, damit sich beide kennen lernen können. Am nächsten Tag wird Alexandre von der Polizei verhaftet.
Mit 138 Minuten ist MENSCHLICHE DINGE lang, schon allein weil er viel Zeit braucht, um zum vermeintlichen Kern der Geschichte zu kommen. Doch einen Kern gibt es eigentlich nicht, es ist die komplette Geschichte. In ausführlichen und intensiven Passagen stellt uns Attal alle Protagonisten vor, gibt Einblicke in ihr Leben und vor allem in ihre Wesensart. Was sich an Situationen als banal ausnimmt, ist bestimmend für die Orientierung des Publikums. Es ist durchaus spannend, weil die Darsteller ihre Rollen mit einnehmender Natürlichkeit erfüllen.
Es ist aber auch spannend, weil sich jeder der Charaktere mit einer Aura der intellektuellen Überlegenheit umgibt. Die Mutter verliert eine harsche Radiodebatte. Der Fernsehsender will den gealterten Vater rausschmeißen. Alexandre ist selbstbewusst, mit einer unterschwelligen Arroganz , weil er in einem entsprechenden Umfeld aufgewachsen ist. Was die Figuren nicht wahrhaben wollen, fällt uns umgehend auf. Sie sind nicht unfehlbar.
Nach der Party erstattet Mila Anzeige wegen Vergewaltigung. Mit Beginn des Prozesses, beginnt auch für uns Zuschauende eine leidenschaftliche Auseinandersetzung. Dadurch, dass wir das gesamte Umfeld, fast alle gesellschaftlichen und familiären Einflüsse kennengelernt haben, wird auch alles möglich. Mila oder Alexandre zu vertrauen fällt uns genauso leicht, wie ihnen zu misstrauen. Wir sehen eben nicht mehr nur die Individuen für sich, sondern versuchen das große Ganze zu erfassen.
Attal ist ein wahrer Künstler im unablässigen Verschieben der Perspektiven. Ständig wiederholen sich Aussagen. Aber nur kleinste Variationen stellen unser Meinungsbild sofort wieder in Frage. Ob Zeuge, Sachverständiger, Klagende oder Angeklagter. Was einen Moment plausibel scheint, nimmt man im nächsten als Lüge wahr. Der Regisseur zwingt uns immer wieder selbst abzuwägen. Zum Beispiel wissen wir bei Alexandre, dass er durch den Einfluss seiner Eltern ein herzensguter Mensch, ebenso aber ein berechnender Lügner sein könnte.
Dabei macht Yvan Attal niemals Zugeständnisse an die Emotionalität des amerikanischen Dramas. MENSCHLICHE DINGE ist kein verspielter Rätselkrimi. Doch er ist ungemein spannend, und kommt dabei ohne die üblichen Versatzstücke des Thrillers aus, weil die Thematik allein schon bemerkenswert ist. Auf die Besetzung des Alexandre mit Ben Attal hatte laut Pressemitteilung die Produktionsgesellschaft bestanden, nicht etwa sein Vater und Regisseur selbst.
Was den Film letztendlich so intensiv und mitreißend, und damit eben auch gelungen macht, sind seine Darsteller. Sie sind immer ein wenig neben dem Typus besetzt, wie er sonst im Mainstream-Kino in entsprechenden Rollen zu finden ist. Allerdings schert ausgerechnet der publikumswirksamste Name etwas aus der Reihe. Charlotte Gainsbourgh ist ohne Zweifel eine gute Schauspielerin, aber ihr Mann Yvan Attal widmet ihr immer wieder eine Spur zu viel Aufmerksamkeit.
In einzelnen, eingestreuten Segmenten wird mit Rückblenden noch einmal die verhängnisvolle Nacht nacherzählt. Hier wechselt auch die Stimmung in den Bildern. Die Optik ist wärmer, die Kameraführung verspielter. Stück für Stück erleben wir die wahren Ereignisse. Aber nicht parallel zur Verhandlung, sondern immer zeitlich versetzt, was uns natürlich als Zuschauende auch hier immer wieder zu einer meinungsbildenden Neuausrichtung bringt. Erst nach der Urteilsverkündung erleben wir auch das Ende jener Nacht mit Mila und Alexandre. Und dieses Ende wird ganz sicher überraschen, und hoffentlich konstruktive Diskussionen anstoßen. Ist ‚Nein‘ auch dann unmissverständlich, selbst wenn es nicht artikuliert wird?
Darsteller: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Pierre Arditi, Mathieu Kassovitz, Charlotte Gainsbourg, Benjamin Lavernhe, Audrey Dana u.a.
Regie: Yvan Attal
Drehbuch: Yael Langman, Yvan Attal
Roman: Karine Tuil
Kamera: Rémy Chervin
Bildschnitt: Albertine Lastera
Musik: Mathieu Lamboley
Produktionsdesign: Samuel Deshors
Frankreich / 2021
138 Minuten