– Bundesstart 01.09.2022
Ein Erzählforscher, politisch korrekt in diesem Fall die Erzählforscherin, erzählt Geschichten über das Geschichtenerzählen. Dr. Alithea Binnie macht das auch, reist dafür auf Einladung diverser Universitäten oder Fachveranstaltungen in der Welt umher. Gerade landet sie in Istanbul, wenn sie uns von ihrem selbstgewählten Beziehungsstand erzählt. Geschieden, nicht liiert. Ihre Geschichte ist wahr, beteuert sie. Unser gesunder Menschenverstand sagt, dass dies nicht stimmen kann. Spätestens wenn ein Flaschengeist aus seinem Gefängnis befreit wird, einem kleinen Gefäß, welches Alithea auf dem Basar erworben hat. Aber wird es dann zur Lüge? Nicht wenn, wenn George Miller erzählt, der viele Grenzen verschwimmen lässt. Ästhetisch, künstlerisch, technisch, inhaltlich. Das hat er schön öfters getan, mit Max, in Eastwick, beim Schwein. Aber noch nie so radikal wie mit Dr. Alithea Binnie und ihrem Dschinn, bei dem sie sich weigert Wünsche auszusprechen.
So einfach sich die Geschichte ausnimmt, so genial verschachtelt ist sie. Die Doktorin und der Dschinn reden und philosophieren. Zuerst erzählt der Flaschengeist in drei Episoden seine 3000 Jahre Gefangenschaft, in denen er nur dreimal befreit wurde. Aus Liebe befreit, und immer wieder wegen der Liebe eingesperrt. Wir erfahren viel über die Mythologie, und darüber, dass Märchen Wirklichkeit sind. Wir erfahren aber auch, was für ein gefährliches Konzept die drei freien Wünsche sind.
Eine Annäherung von Alithea und Dschinn geben die Regeln des romantisch verklärten Märchens eigentlich vor, doch George Miller spielt nur mit diesem Klischee. Das Drehbuch hat der Regisseur mit seiner Tochter Augusta verfasst, nachdem sie von ihrem Patenonkel Nick Enright empfohlen worden war. Enright verstarb bereits 2003, das Drehbuch hatte also vor Realisierung schon eine lange Reise hinter sich. Da hatte Miller als Regisseur noch zweimal HAPPY FEET und MAD MAX: FURY ROAD vor sich.
Die Vielfältigkeit dieses Mannes ist also bemerkenswert, selbst wenn er für immer, und ein bisschen auch zu Recht, auf eine Filmreihe festgelegt wird. Die momentan demographisch kassenträchtige Generation wird George Miller also erst mit FURY ROAD richtig kennengelernt haben. Und die werden sich mit der neuzeitlichen Fantasy THREE THOUSAND YEARS schwer tun. Das macht den Film aber nicht minder sehenswert, im Gegenteil. Er beschwört genauso bildgewaltig und atemberaubend die Macht des Kinos.
Im Action-Spektakel FURY ROAD wollte Miller keine Computer Effekte (lediglich bei Landschaften und dem Sandsturm wurde nachgeholfen), in THREE THOUSAND YEARS gibt es sie unentwegt. Die sind manchmal sehr leicht zu entlarven, aber bisweilen auch phänomenal. Letztendlich wird dies im Fluss der Erzählung vollkommen irrelevant. Besser gesagt, im Fluss der diversen Erzählungen. Die überschäumende Flut an optischen Extravaganzen wird zu liebevollen Spielereien, die nicht nur das phantastische verwirklichen.
George Miller hat eigentlich nie den Hang zu anspruchsvollen Geschichten. Aber er macht die Filme anspruchsvoll, reich an Detail, überbordend mit Einfällen für Ausstattung und optische Ebenen. So nutzt der Film die visuellen Effekte auch sehr geschickt um die Perspektiven einzelner Figuren einzunehmen und zu verdeutlichen. Kurz nach der Premiere konnte man vernehmen, man solle sich für THREE THOUSAND YEARS die größtmögliche Leinwand aussuchen.
Sehr gewöhnungsbedürftig ist die Erzählstruktur, die keiner gewöhnlichen Dramaturgie zu folgen scheint. Ein Erzählforscher erzählt Geschichten über das Geschichtenerzählen. Hier sind es Geschichten in Geschichten innerhalb von Geschichten. Und mittendrin werden die Figuren philosophisch, dann wieder moralisch. Und immer scheint es nur. Es erscheint willkürlich, es erscheint unstrukturiert. Aber gerade darüber vergisst man auch die Zeit. Man vergisst sie gerne. Wie es Scheherazade mit 1001 Nacht erreichen wollte.
Doch am Ende fügt es sich. Es gibt keine Belehrungen, keine moralisierende Auflösung. George Miller endet, wie eine gute Erzählung enden soll. Mit dem Verlangen nach mehr. Auch wenn es einen guten Anteil an Zuschauenden geben wird, die sich enttäuscht zeigen werden, vielleicht sogar überhaupt nichts mit THREE THOUSAND YEARS anfangen können. Er ist auch schwer greifbar, wenn man die Reputation des Machers als Zielsetzung für den Abend voranstellt. Hier erwartet einen das Gegenteil von MAD MAX bis FURY ROAD.
John Seale beendete seine Kamera-Karriere 2010 mit THE TOURIST. Miller holte ihn zweimal aus dem Ruhestand. Das war 2015, und erneut hierfür. Man kann aber auch sehen, was Seale dazu bewogen hat. Es ist zu sehen, wenn er ein beengtes Hotelzimmer in einen großen Saal verwandelt, er jedes Setting mit einer differenzierten Atmosphäre einfängt, und jeden Protagonisten wortlos über das Bild verständlich macht. Ob CGI bearbeitetes Material oder ausladende Kulissen, Seale bringt seine Bilder nahtlos zu einem komplexen Ganzen.
Eine wunderschöne Reise in eine Welt voller realer Mythen und phantastischer Wirklichkeiten. Das ist mit Tilda Swinton und Idris Elba eine darstellerische Wucht. Wenn sie mit stoischer Gelassenheit den gigantischen Dschinn in ihrem Zimmer in Streitgespräche verwickelt, bewegt sich Swinton wieder einmal außerhalb der Konformität regulärer Schauspielkunst. Und wenn Idris Elba entgegen seiner gewaltigen physischen Präsenz, seine Stimme leicht erzittern lässt, schon tragisch betrübt sein Leid klagen darf, ist er endlich einmal ankommen, wo man ihn schon immer einmal sehen wollte. Schmerz, Sorge, Ironie, Bitterkeit, Verständnis, aber auch Liebe sind vereint und allgegenwärtig in ihren tiefgründigen Gesprächen. Wir als Zuschauende lachen nicht über Alithea oder den Dschinn. Wir lachen darüber, wie viel anders sie die Welt verstehen, und wie beide begreifen was darüber hinaus noch existiert.
Darsteller: Tilda Swinton, Idris Elba, Aamito Lagum, Burcu Gölgedar, Matteo Bocelli, Kaan Guldur, Jack Braddy u.a.
Regie: George Miller
Drehbuch: George Miller, Augusta Gore
Kamera: John Seale
Bildschnitt: Margaret Sixel
Musik: Junkie XL
Produktionsdesign: Roger Ford
Australien, USA / 2022
108 Minuten