– Bundesstart 02.06.2022
Er sei kein Schneider, sondern macht Maßanzüge, muss Leonard Burling mehrere Male richtig stellen. Er erklärt auch gerne und eindringlich den Unterschied. Für Leonard Burling sind Textilien und das was man daraus macht, der einzige Lebensinhalt. Für die Zuschauenden beschreibt er die einzelnen Schritte für einen Anzug. Welchen Stoff, die Anzahl der Einzelteile, und wie viele Arbeitsschritte. Wenn Mark Rylance dies aus dem Off erzählt, erinnert man sich umgehend, warum er als bester Nebendarsteller 2015 für BRIDGE OF SPIES für so viele Preise nominiert war, oder diese gewonnen hat. Natürlich ist der Shakespeare-Darsteller schon wesentlich länger im Geschäft, aber seine Art zu spielen stand im krassen Gegensatz zu dem, wie man jene gewinnträchtige Rolle interpretieren würde. Mit diesem Attribut verweist er auch darauf, dass er Maßanfertigungen macht, und kein Schneider ist. Und nach 105 Minuten haben alle verstanden, in welchen Kontext diese Aussage gesetzt werden muss.
In seiner kleinen Konfektionsschneiderei in Chicago, macht Leonard Burling feinste Anzüge für gehobene Herren aus erlesenen Kreisen. Es ist Mitte der 1950er, und Burling arbeitet unbeirrt in seiner Werkstatt, auch wenn zwielichtige Männer ein und aus gehen, um gefüllte Briefumschläge in einen gesicherten Kasten zu werfen. Und er schaut auch nicht auf, wenn noch viel zwielichtigere Gestalten den Inhalt des Kastens abholen. Burling ist mehr daran interessiert, seine Vorzimmerdame Francis für Textilien und eine Zukunft im Laden zu begeistern.
Welche Richtung Regisseur Graham Moores erste Langfilm einschlagen wird, lässt sich nicht im Geringsten einschätzen. Es ist Moores Regiedebut, sein bisher einziges Drehbuch war zum reichlich überfrachteten THE IMITATION GAME. Sicher ist, dass THE OUTFIT in eine andere Richtung geht, und sich gemächlich zum wesentlich besseren Film entwickelt. Am Drehbuch geholfen hat Schauspieler Johnathan McClain, der als Autor lediglich vier Episoden der unbedeutenden Sitcom LIVE AND MADDIE verfasste.
Mit seinen stark mit Brauntönen durchsetzten Bildern schafft Kameramann Dick Pope eine sehr einnehmende Atmosphäre vergangener Kinozeiten. Es sind klare Einstellungen, wohl durchdacht kadriert, mit stimmungsvollem Mut zum Schatten. Herauszufinden das OUTFIT ein Kammerspiel wird, braucht seine Zeit. Was aber auch daran liegt das Dick Pope die drei Räume des Ladens in vollem Umfang zu nutzen versteht. Zudem verdichten sich auch die räumlichen Perspektiven, je nach Intensität der Szenen.
Die ersten zwanzig Minuten lässt sich Moore in der Inszenierung wirklich Zeit. Es ist keine Geduldsprobe, gedanklich wird das extrem zurück genommene Geschehen allerdings schon misstrauisch begleitet. Aber dann ist etwas faul mit dem Briefkasten in der Werkstatt. Die Herren Gangster werden nervös, in der feinen Gesellschaft soll es einen Maulwurf geben. Der Konfektionär ist plötzlich in Dinge verwickelt, die eigentlich nur die bösen Jungs unter sich ausmachen können.
THE OUTFIT lässt sich am besten beschreiben wie eine alte, zuverlässige Achterbahn. Es kommt ein langer und langsamer Aufstieg, bis die Waggons gemächlich über den Scheitelpunkt fahren. Dann kommt die Schussfahrt, wo das Bauchgefühl ganz klar ansagt, dass es extrem aufregend wird. An diesem Punkt ist es unmöglich zu stoppen. Die Zuschauer werden regelrecht mitgerissen, ohne Möglichkeit abzuspringen. Aber es würde ohnehin keiner wollen.
Leonard Burling muss improvisieren, denn die Gangster misstrauen sich untereinander, und ein Außenstehender wird da schnell zum perfekten Opfer. Schließlich haben Graham Moore und Johnathan McCain die Zuschauer auf eine Fahrt geschickt, die mit Steilkurven, Korkenziehern und Loopings eine überraschende Situation nach der anderen in den Weg werfen. Es wird gelogen und betrogen was das Zeug hält. Ständig wechseln die Sympathien gegenüber diverser Figuren. Es ist Rätselspaß und Krimi-Thriller gleichermaßen. Der Charakter des Kammerspiels komprimiert noch einmal die sich mehr und mehr aufbauende Spannung.
Glaubt man den einen als Bösewicht durchschaut zu haben, entpuppt er sich im nächten Moment als verlässlicher Freund. Das stoisch, gelassene Wesen von Mark Rylance bricht immer wieder einmal auf. Wenn es ihm gelingt sich mit Trickserei einer ausweglosen Situation zu entziehen, verdreht sich das gesamte Geschehen in die nächste vertrackte Lage. Bis jeder jeden auszuspielen versucht. Es ist ein perfekt ausgeklügeltes Konstrukt von erstklassig ersonnen Verstrickungen mit dem Graham Moore unterhält.
Als Zuschauender glaubt man immer wieder das Geschehen und die Hintergründe zu durchschauen. Es ist die hohe Kunst von Buch und Inszenierung, dass sich der Beobachter im Auditorium nicht alleine gelassen fühlt, und sich dann doch immer und immer wieder selbst neu orientieren muss. Was als vermeintlich altbackener Film beginnt, ist am Ende perfekt maßgeschneidertes, weil eindringlichstes Spannungskino. Dieses Erlebnis ist definitiv nicht von der Stange.
Darsteller: Mark Rylance, Johnny Flynn, Zoey Deutch, Simon Russell Beale, Dylan O’Brien, Alan Mehdizadeh, Nikki Amuka-Bird u.a.
Regie: Graham Moore
Drehbuch: Graham Moore, Johnathan McClain
Kamera: Dick Pope
Bildschnitt: William Goldenberg
Musik: Alexandre Desplat
Produktionsdesign: Gemma Jackson
Großbritannien – USA / 2022
105 Minuten