– Bundesstart 17.02.2022
Es wird schwer einen Film zu beschreiben, wenn er einem derartig schnell ans Herz wächst. So schnell, obwohl immer noch 60 Minuten bis zum Abspann bleiben. So könnte sich auch Kenneth Branagh gefühlt haben, als er einen Film über seine Kindheit machen wollte, und über seine Stadt. Ein Gefühl von Zuneigung, dass schwer, oder eigentlich kaum zu beschreiben ist. Es sind Erinnerungen die ihn nicht losgelassen haben, natürlich, sonst hätte er keinen Film darüber gemacht. Und eine Stadt, die ihn nie losgelassen hat, was der Filmtitel vermittelt. Aber was und wie Branagh erzählt, bleibt erstaunlich allgemeingültig. Es ist keine Biografie die einen Leidensweg nachgeht, oder einschneidende Situationen dem späteren Leben gegenüber gestellt werden. Welche Ereignisse später den erwachsenen Kenneth in seinem Wesen beeinflusst haben, bleibt irrelevant.
Es ist 1969 in Belfast, Irland. Die Welt in welcher der neunjährige Buddy aufwächst ist in Ordnung. Sein Vater ist immer wieder längere Zeit zum arbeiten in London, aber zuhause immer für ihn da. Buddys Mutter kümmert sich um alles, stets fürsorglich und einfühlsam. Bruder Will ist der beste Freund, und die Großeltern Pop und Granny machen ihm das Leben mit Weisheiten verständlich. Und als marodierende Protestanten den heimischen Straßenzug verwüsten, um Katholikenfamilien zu vertreiben, wirkt das auf Buddy wie ein aufregendes Abenteuer.
Erzählt wird die Geschichte aus dem Blickwinkel von Buddy. Die ganze Geschichte. Es gibt keine überflüssigen Blenden in die heutige Zeit, und keine mühsam aus der Luft gegriffene Verständniserklärungen. Es ist und bleibt die Welt eines Neunjährigen, die dem erwachsenen Zuschauern sehr eindringlich ins Gedächtnis ruft, dass wir unsere Kindheit im Rückblick tatsächlich als bessere Welt wahrgenommen haben. Der Regisseur hat dabei ein extrem scharfes Auge darauf, dass es keine verklärte Sicht in die Vergangenheit wird, sondern das die Wahrnehmung eben früher eine andere war.
Beim Ritter spielen mit den anderen Kindern, nutzt Buddy den Deckel einer Mülltonne als Schild. Und wenn sich Mutter später mit dem selben Deckel einem Helden gleich gegen die Steinwürfe der Protestanten schützt, dann sind das durch die Erinnerung geschaffene Fakten. Kein Zuschauer wird diese Szene für überzeichnet halten, oder so einen Zufall als Unfug abtun. Als Zuschauer sind wir bereits auf Buddys Augenhöhe. Und wir sind bei Kenneth Branagh, wie er uns an seiner Kindheit und seinen Empfindungen teilhaben lässt.
Viele Szenen bleiben verschwommen, erklären sich kaum, lassen sich nicht richtig deuten. Das kommt, weil Branagh nie vom Blickwinkel seines jungen Protagonisten ablässt. Da wird die Erwägung eines Umzuges von Belfast nach London zu einer tränenreichen Tragödie, während der schwellende Bürgerkrieg eine abenteuerliche Abwechslung bleibt. Und das in mitreißendem Schwarzweiß, wo Haris Zambarloukos stets auf das Wesentliche in den einzelnen Szene konzentriert bleibt.
Trotz Branaghs Affinität für Zelluloid, hat Zambarloukos digital mit der Alexa Mini gedreht. Das Ergebnis ist dennoch ein Kino-Look, der viel überzeugender das optische Flair der damaligen Filme wiedergibt, als so manche neuzeitlichen Versuche mit analogen Film. Das BELFAST mit beeindruckenden Panorama Einstellungen aus der Gegenwart und in kräftigen Farben beginnt und endet, ist ein überraschender Kunstkniff, der die Zeitreise in die eigentlich düstere Epoche irischer Geschichte noch eindringlicher macht.
Über die Besetzung muss man nicht viel Worte verlieren. Die Darsteller strahlen allesamt eine ansprechende Natürlichkeit aus, die den Film richtig am Boden hält. Da braucht es keine großen Dramen, außer wenn Buddy nicht neben seinem heimlichen Schwarm in der Schule sitzen kann. Es sind auch nicht die gelösten Komödienszenen notwendig, lediglich wenn Buddy während einer Plünderung verdonnert wird, das von ihm erbeutete Waschpulver zurück in den Laden zu tragen.
BELFAST ist schlichtweg ein schöner Film. Er ist so aufregend, weil er einfach nicht so aufgeregt ist. Er ist spannend, weil er keine künstlichen Spannungsmomente braucht. Und er ist witzig, weil eine unbedarfte Kindheit gerade in schwierigen Zeiten genügend lustige Momente bereit hält. Trotz seiner Leidenschaft für monumentales Kino und seiner Reputation für die stimmigsten Shakespeare-Adaptionen, wird Sir Kenneth Branagh als Filmautor zukünftig an BELFAST gemessen werden.
for the ones who stayed
for the ones who left
and for all of the ones who were lost
– Sir Kenneth Branagh –
Darsteller: Jude Hill, Lewis McAskie, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Ciarán Hinds, Judi Dench, Josie Walker u.a.
Regie & Drehbuch: Kenneth Branagh
Kamera: Haris Zambarloukos
Bildschnitt: Úna Ní Dhonghaíle
Musik: Van Morrison
Produktionsdesign: Jim Clay
Großbritannien / 2021
98 Minuten