tick, tick… BOOM!

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15 Tage hätte Jonathan Larson noch zu seinem 36. Geburtstag gehabt. Und nur wenige Stunden bis zu seinem hart erarbeiteten, sehnlichst erwarteten Erfolg. Es mutet an, wie die Karriere von Lin-Manuel Miranda, dem aufstrebenden Musical- und Broadway-Star. Mirandas musikalischer Lebenslauf zeigt viele Parallelen zu dem von Jonathan Larson. Eigentlich, und da man muss gar nicht so weit schauen, ähneln sich die Wege fast aller Musiker und Komponisten, die ihre Zukunft am Broadway sehen. Nur das Miranda, der eigentlich selbst Musicals schreibt, sich für sein Regiedebut einem anderen Musical zugewendet hat, einem von Jonathan Larson. Jenseits der Musical-Szene und außerhalb des Broadway wird viel mehr als der Name Larson, das Stück RENT schon einmal zu Ohren gekommen sein.

Wer energiegeladene Musikfilme mag, dem hat Lin-Manuel Miranda genau das richtige zubereitet. tick… tick… BOOM! ist ein wirklich raffinierter Mix von Biografie, Musical, und Film im Film. In erster Linie ist das Steven Larson zu verdanken. Kein Unbekannter in musikalischen Themen und Adaptionen, hat er ein fast schon schwindelerregendes Buch verfasst, dass unablässig zwischen verschiedenen Ausdrucksformen in Erzähltechnik und Aufnahmeformat wechselt. Und das funktioniert viel beeindruckender, als man zuerst vermuten möchte.

Thematisch und musikalisch scheint es nur natürlich, dass sich Miranda genau diesen Stoff für sein Regiedebut ausgesucht hat. Anders herum muss man zugestehen, dass kaum ein anderer das Material besser verstanden und umgesetzt hätte. Eigentlich ist tick… tick… BOOM! ein Rock-Musical-Monolog, dass allein von Larson mit einer Band vorgetragen wurde. Dabei wird die Geschichte erzählt, wie Jonathan Larson immer wieder an der Fertigstellung seines Musicals ‚Superbia‘ scheitert.

Miranda hat eine existierende Videoaufnahme des Monologes exakt nachgestellt, eine karge Bühne mit einem Piano und einigen Musikern. Hervorgehoben werden in wenigen Passagen nur zwei Sänger, ansonsten erzählt und singt Larson von seinem Leben. Dieses Material bricht Miranda immer wieder auf, um von der Bühne in eine filmische Adaption mit natürlichen Spielszenen zu wechseln. Beim Song „Sunday“ geht er sogar noch eine Ebene weiter, und wandelt das realistische Filmset explosionsartig in die Bühnenkulisse eines Musicals.

Wem es schon immer befremdlich war, dass in spannenden oder dramatischen Filmen die Menschen immer unkontrolliert in Gesang ausbrechen, der ist bei tick… tick… BOOM! falsch. Ganz falsch. In der Beziehung unterscheidet sich auch dieses Musical nicht von anderen. Die Songs mögen rockiger und insgesamt an den modernen Geschmack angepasst sein, aber der musikalische Charakter hat in den Jahrzehnten nur marginal variiert. Schließlich ist die Ausdrucksweise einer Nummer anders als bei herkömmlichen Liedern, weil theatralische Spielformen und gesprochener Text in den Song mit einfließen müssen.

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Wer sich aber an einem inszenatorischen Spektakel satt sehen möchte, der ist wiederrum mit Lin-Manuel Mirandas Film bestens bedient. Als Regisseur beweist er ein erstaunliches Gespür für Rhythmus und Tempo, das weit über die einfache Bebilderung von Gesangstücken hinaus geht. Der ständige Wechsel von Formaten und Settings innerhalb einer Sequenz haben trotz der erhöhten Dynamik einen geschmeidigen Fluss, der die verschiedenen Ebenen symbiotisch wirken lässt.

Das Miranda den Zuschauer mit der Wucht seiner Bilder nicht überfordert, ist der extrem feinfühligen Akzentuierung von Close-ups und bewegten Einstellungen zu verdanken. Alice Brooks hat mit ihrer Bildgestaltung den Übergang von Theaterbühne zur Leinwand sehr gekonnt zu nutzen verstanden. Mit diesem Geschick für Bild und Inszenierung wird der Song „Why“ zum dramaturgischen Höhepunkt. Der Film nimmt die eigene treibende Energie stark zurück und fokussiert sich ganz auf Andrew Garfield am Piano in einem leeren Freiluft-Theater. Dadurch gewinnt diese Nummer eine ganz eigene, noch emotionalere Wucht, die sie als erzählerischer Stützpfeiler braucht, aber auch verdient.

Das sich Lin-Manuel Miranda seit dem von ihm geschriebenen Erfolg HAMILTON als Erneuerer des modernen Musik-Theaters versteht, kann man mit Ausblick auf seine Omnipräsenz in Theater, Film und Synchron durchaus behaupten. Es ist eine Eigenschaft, die ihn ebenfalls mit Jonathan Larson verbindet. Der Ehrgeiz, und die dabei entfachte Selbstsucht, nicht einfach nur das Beste zu vollbringen, sondern davon überzeugt zu sein, dass die Welt dies wahrhaftig brauchen würde. Und es geht auch darum, die entsprechende Anerkennung zu bekommen. tick… tick… BOOM! hat diese Wesenszüge sehr gut und sehr ungeschönt dargestellt.

Jonathan Larson ist diesen, seinen Träumen hinterher gejagt, und hat seinen Erfolg um nur wenige Stunden versäumt, weil eine geplatzte Schlagader anderes für ihn vorsah. Das im Film gleich zweimal eine Off-Stimme darauf aufmerksam macht, gibt der Geschichte einen bitteren Geschmack, weil es den Menschen Larson unnötig überhöht. Für den Regisseur war es aber unumgänglich, weil bei ihm nicht der Mensch im Vordergrund steht, sondern die unerbittliche Leidenschaft für die Sache, und damit für seine eigene Profession.

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Darsteller: Andrew Garfield, Alexandra Shipp, Robin de Jesus, Vanessa Hudgens, Joshua Henry, Jonathan Marc Sherman sowie Bradley Whitford, Tariq Trotter, Richard Kind u.a.
Regie: Lin-Manuel Miranda
Drehbuch: Steven Levenson
nach dem Musical von Jonathan Larson
Musik & Songs: Jonathan Larson
Kamera: Alice Brooks
Bildschnitt: Myron Kerstein, Andrew Weisblum
Produktionsdesign: Alex DiGerlando
USA / 2021
115 Minuten

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