– Bundesstart 07.10.2021
Es passiert nicht sehr oft, einen Film zu sehen, der so wenig Handlung hat, aber so unheimlich viel zu sagen weiß. Das Filmemacher Uberto Pasolini noch keinem größeren Publikum aufgefallen ist, liegt zweifelsfrei an seiner extrem kurzen Vita als Regisseur. Als Produzent hingegen wird das bekannteste Projekt des Neffen von Luchino Visconti wohl THE FULL MONTY – GANZ ODER GAR NICHT sein. Wer also ein Freund von leisen und ehrlichen Geschichten ist, für den wird NOWHERE SPECIAL auschlaggebend sein, Pasolini auch in Zukunft genauer im Auge zu behalten. Es ist einfach erstaunlich, wie unprätentiös er die Erzählung des freiberuflichen Fensterputzers John umgesetzt hat, der seinem vierjährigen Sohn einfach nur den bestmöglichen Weg in eine gesicherte Zukunft bereiten möchte.
Es fällt schon in den ersten Minuten auf, dass Uberto Pasolini in seinem Film auf viele Stilmittel verzichtet, die ein herzzerreißendes Melodram möglich machen würden. Der Filmemacher verzichtet sogar auf eine musikalische Untermalung seiner Lebensgefährtin Rachel Portman, die mit ihren Filmkompositionen gerne die dramaturgische Führung übernimmt. Dialoge sind auf ein glaubhaftes Niveau reduziert, wirkliche Erklärsätze bleiben aus. Als Zuschauer sind wir die Außenstehenden, die John und seine Sprössling Michael erst kennenlernen werden.
Wir lernen John und Michael aber nicht kennen, wie man im Film regulär in Charaktere eintaucht. Wir bekommen den Kern der Geschichte nicht auf dem Silbertablett serviert, sondern müssen uns auf die beiden einlassen. Beim Besuch einer wohlhabenderen Familie, wird das Schicksal konkreter. John sucht für seinen Sohn passende Eltern. Die bestmöglichen Eltern. So wie sich Vater und Sohn verhalten, wie sie miteinander agieren, wie abgestimmt sie in ihrem Alltag sind, ist ganz klar, dass es einen fatalen Grund gibt, weshalb der mutterlose Michael eine neue Familie brauchen wird.
Als Fensterputzer schaut John in viele Wohnungen, und betrachtet Auslagen in Schaufenstern. Und bei Reflektionen in Fensterscheiben verlieren wir uns zusammen mit John in eine ungewisse Gedankenwelt. Es sind Gedankengänge, die uns eigentlich ratlos lassen, dennoch nicht mutlos. Immer wieder ist man darauf gefasst eine dramatisierte Überreaktion zu erleben. Da erwartet man einen Moment, wo Wut und Ohnmacht hinaus geschrien werden, oder jemand unvermittelt im Tränenfluss zusammenbricht. Mit stoischer Gelassenheit umgeht Uberto Pasolini jedes dieser Klischees, die bei einem derartigen Film förmlich danach brüllen müssten.
Das sich der Handlungsverlauf immer wieder gegen die obligatorischen Erzählelemente wendet, macht die sprichwörtliche Seele von NOWHERE SPECIAL aus. Dies soll kein Film von außergewöhnlichen Augenblicke sein, oder überhöhten Emotionen. Der grandiose James Norton und ein unglaublicher Daniel Lamont geben uns zwei Menschen die nicht spielen, sondern sind. Pasolini will uns nicht zum Weinen bringen. Und tatsächlich fragen wir uns immer wieder einmal, warum eigentlich nicht. Aber letztendlich macht genau das NOWHERE SPECIAL zu einem durch und durch berührenden Film. Einer der uns im Herz trifft, weil er so ehrlich und unaufdringlich in seiner Inszenierung und mit seinen Figuren ist.
Nach den vielen Besuchen von verschiedenen Familien und Paaren, wird James am Ende eine Entscheidung getroffen haben. Bei einem herkömmlichen Drama, wäre dies auch als Überraschungsmoment inszeniert worden. Doch wir sind in 90 Minuten Teil dieser zweiköpfigen Familie geworden, und auch Freund mit den Menschen, welche die beiden so herzlich unterstützt haben. James hat zwar ungewöhnlich, aber vollkommen richtig entschieden hat. Davon bin ich als Schreiber dieser Zeilen überzeugt.
Darsteller: James Norton, Daniel Lamont, Eileen O’Higgins, Valerie O’Connor, Valene Kane, Keith McErlean u.a.
Regie & Drehbuch: Uberto Pasolini
Kamera: Marius Panduru
Bildschnitt: Masahiro Hirakubo, Saska Simpson
Musik: Andrew Simon McAllister
Produktionsdesign: Patrick Creighton
Großbritannien – Rumänien – Italien / 2020
96 Minuten