– Bundesstart 12.08.2021
Die meisten Kritiker tun sich nicht sehr leicht, Darstellern die beste Leistung ihrer Karriere zu attestieren. Es ist immer ein heikles Unterfangen, weil dieses Attribut der besten Darstellung auch immer im Verhältnis mit dem Ursprungsmaterial gesehen werden muss. Bevor Lance Henriksen sich für FALLING vor die Kamera stellte, hatte er seit 1961 bereits 234 Rollen abgedreht. Und gerade in den letzten Jahren war die Auswahl von Filmen, gelinde gesagt, qualitativ eher bescheiden. Umso erfreulicher für Cineasten und Freunde anspruchsvoller Schauspielkunst, zeigt Lance Henriksen in FALLING zweifellos eine der anspruchsvollsten Leistungen seiner Karriere. Eine kleine Spur von Zurückhaltung muss gewahrt bleiben, um nicht das Maß zu verlieren. Dennoch wird es kaum einen Zuschauer geben, der nicht von Henriksen beeindruckt sein wird.
Viggo Mortensen gibt für sein Debut als Drehbuchautor und Regisseur an, die Vergangenheit mit seinem Vater aufarbeiten zu wollen. Wie auch immer dies in näherer Betrachtung gemeint sein mag. Aber fast alle Szenen zeigen, dass Mortensen ein sehr genauer Beobachter ist, und er auch nicht anklagen will. Und anzuklagen wäre so einiges. Denn Willis Peterson ist kein netter Mensch. Mit persönlichem Abstand könnte man sogar sagen, er ist abstoßend. Das zu seiner Homophobie, sowie Frauen- und Fremdenfeindlichkeit auch noch fortschreitende Demenz kommt, macht nicht nur die Person schwierig, sondern den Film immer wieder sehr unangenehm.
FALLING ist kein leichter Film, manchmal schwer anzusehen. Der eigentlich glücklich mit dem chinesisch stämmigen Eric verheiratete John holt seinen Vater vom ländlichen New York nach Los Angeles. Die verdeckte Absicht, Willis nach Kalifornien umzusiedeln, um sich besser um ihn kümmern zu können, wird schon in der Eröffnungssequenz zum Scheitern verurteilt. Auf einem Nachtflug erwacht der verwirrte Willis, und weckt sie anderen Passagieren mit zornigen und sehr unflätigen Schimpftiraden gegen seinen Sohn.
Der Geist des alten Mannes flüchtet unentwegt in die Vergangenheit. So erzählt Mortensen auch die Geschichte und Beziehung von Willis, seiner Frau und den beiden Kindern Sarah und eben John. Es gibt keine wirklichen Erklärungen, warum Willis so wurde, wie er nun unveränderlich geworden ist. Die Rückblicke sind zum Teil auch Johns Erinnerungen, und die sehen die Vergangenheit aus der Sicht eines Kindes, dass natürlich das Wesen eines Erwachsenen noch nicht richtig begreift. Für die Zuschauer entblättert sich das Wesen dieses Mannes sehr langsam, durch sehr genaue Beobachtung.
Was Viggo Mortensen in seiner Inszenierung nicht wirklich gelingt, ist ein konsistenter Fluss im Verlauf. Oft wirken die einzelnen Szenen zusammenhanglos und in der Struktur austauschbar. So wird auch ein signifikanter Ortswechsel in der Handlung nicht gleich bewusst. Eine gewisse Spannung bleibt aber durchweg bestehen, weil jeder Mensch in Willis Umfeld anders auf seine Anschauungen, Beleidigungen und Obszönitäten reagiert. Manchmal ist seine scheulose Offenheit erfrischend, was aber meist in schmerzhafter Rücksichtslosigkeit endet. Wenn man sich als Zuschauer ein Lächeln nicht verkneifen kann, dann geschieht das meist aus leidvollen Erinnerungen an ähnliche, oder genau solche Situationen.
Doch Mortensen gelingt es entgegen der holprigen Handlungsstruktur, die Übergänge von Willis‘ geistiger Wahrnehmung sehr einnehmend zu inszenieren. Dies allerdings mit der fantastischen Feinfühligkeit von Henriksen, dessen Mimik und Körperhaltung schlagartig seine Stimmungen wiedergeben. Da werden seine Gesichtszüge unvermittelt sehr weich, wenn er durch kleine Alltagsdetails an seine verstorbene Frau erinnert wird. Eine Frau die er im Heute durch seine verhärtete Art verflucht und beschimpft, aber nur, weil er ohne sie auch die besten Zeit seines Lebens verloren hat.
Gegen so einen Menschen zu bestehen ist schwer. Erst recht als Charakter auf der Leinwand. Mortensen als Schauspieler hat es schwer sich darstellerisch und damit emotional gegenüber Henriksen zu behaupten. Da wirkt Terry Chen als Eric in seiner teilweise resignierenden Reaktionen eine Spur souveräner, der als homosexueller Asiate in Willis‘ Augen gleich zwei fragwürdige Attribute auf sich vereint. Chen hat allerdings auch wesentlich weniger Leinwandzeit mit Henriksen. Intensiv bleibt FALLING trotz seiner verschmerzbaren Schwächen. Nicht einfach, aber eine eindringliche Erfahrung.
Darsteller: Lance Henriksen, Viggo Mortensen, Terry Chen, Gabby Velis, Sverrir Gudnason, Hannah Gross, Laura Linney, Etienne Kellici, Carina Battrick u.a.
Regie & Drehbuch & Musik: Viggo Mortensen
Kamera: Marcel Zyskind
Bildschnitt: Ronald Sanders
Produktionsdesign: Carol Spier
Kanada – Großbritannien – USA / 2020
112 Minuten