– Bundesstart 08.07.2021
Es sieht nach Routine aus. Rory O’Hara bringt seiner Frau Allison Kaffee ans Bett. Die Kinder Sam und Ben werden zu spät zur Schule gebracht. Allison arbeitet in einer Reitschule. Vater Rory kommt nachhause, gefolgt von einem entspannten Abendessen der Familie. Es sieht vertraut aus. Aber es hat nicht die sorgenfreie, gelöste Atmosphäre die man aus vergleichbaren Szenen-Montagen kennt. Ist wirklich alles nur Routine? Bis Rory seiner Frau beim morgendlichen Kaffee am Bett offenbart, dass die Familie von New York nach London umziehen wird. Die Geschäftsmöglichkeiten für Rory sind erschöpft. Der freie Unternehmer könnte aber als selbstständiger Teilhaber in seiner alten Firma ein Vermögen machen. Ein überdimensioniertes Landgut, ein eigener Reitstall, die beste Schule für die Kinder. Doch was als Höhenflug gedacht war, hebt nicht ab, es rast auf das Ende der Rollbahn zu.
Filmemacher Sean Durkin sieht sein Handlungsgerüst viel mehr als Leitfaden, anstatt einer profunden Geschichte. Er zelebriert jeden Moment, und lässt jeden dieser Momente für sich stehen. Es ist die Besonderheit einzelner Augenblicke auf die der Regisseur unsere Aufmerksamkeit richtet. Selbst als Außenstehende begreifen wir diese winzigen Episoden, die letztendlich ein Leben formen. Oder in diesem Zusammenhang, eine gewachsene Beziehung. Nach und nach wird einem bewusst, dass Allisons nüchterne Gelassenheit, mit der wir sie kennenlernen, eigentlich längst stoische Resignation geworden ist.
Es wird ein Rosenkrieg, allerdings ohne Humor. Etwaige Lacher entweichen eventuell aus einem peinlichen berührt sein. Auch wenn Durkins Sympathien in der Erzählung auf der Seite von Allison liegen, macht er aus Rory keinen bösen Menschen. Es schmerzt fast ein wenig Law dabei zuzusehen, wie er sich fast in all seinen Szenen windet, seine Erklärungen immer gleichzeitig zu einer Rechtfertigung macht. Immerzu ist er darauf bedacht im entscheidenden Moment das Richtige zu tun. Obwohl er sich als Blender enttarnt, macht seine einnehmende Präsenz aus dem Beobachter einen Skeptiker, einen, der an Rory wirklich glauben möchte.
Es ist keine einseitige Erzählung, selbst wenn sich die Familie über Allison erklärt. Man nimmt aber auch gar nicht erst an, dass hier Abwägungen inszeniert werden sollen. Es ist kein Für und Wider, oder etwa Schuldfrage an die jeweils andere Partei. Es bleibt selbst mit der Fokussierung auf Allison, eine Betrachtung der ganzheitlichen Beziehung und den Einfluss auf die gesamte Familie. Ein psychologischer Trick den Sean Durkin dabei anwendet, kommt dem Gebaren von Rory gleich. Da wir als Beobachter Rory selbst schnell entlarven, übersehen für längere Zeit die Zeichen, welche Allisons Eskapismus erkennen lassen, der ebenfalls die Grundfesten der Familie zerrütten.
So unspektakulär die Szene zuerst erscheint, ist Allisons emotionaler Ausbruch eine der stärksten Sequenzen des Films. Frustriert geht sie in eine Bar, weil sie einen Drink braucht, und beginnt dann in einer Gruppe vergnügter, auffallend jüngerer Menschen, für sich allein zu tanzen. Es ist fast unmöglich die Figur Allison gelöst von Carrie Coon zu betrachten, was eigentlich das erklärte Ziel jeden Darstellers sein sollte. Aber Coon gibt nichts preis, sie erklärt sich nicht aus ihrem Spiel, was Schauspieler mit interessanten und tiefgründigen Charakteren eigentlich tun, um eine Brücke zum Zuschauer zu bauen. Durch Coon bleibt uns Allison nicht fremd, aber wir müssen sie von unserer Seite aus verstehen lernen. Und so wird sie ehrlicher und greifbarer.
Da Sean Durkin einen komplexen Handlungsverlauf umgeht, und seine Erzählung als Verkettung von Momentaufnahmen zeigt, muss er zwangsläufig auch dem Publikum eine Stimme geben. Wie diese vielen kleinen Szenen, die scheinbar nur zufällig eine Handlung ergeben, kommt auch die Fahrt in einem Taxi so unvermittelt, wie sie dann auch wieder vergeht. Hier ist es eine Inkarnation des Zuschauers, die Rory damit bedrängt, was er selbst nicht mehr erkennen will, und Allison in ihrer Beziehung aufgegeben hat.
Den überraschendsten Bogen schlägt Durkin allerdings mit Sam und Ben, die oberflächlich betrachtet die wirklichen Opfer in den psychologischen Mühlen ihrer Eltern zu sein scheinen. Ihre Besonderheit liegt zuerst in der Zeichnung, wo Sam als ältere Schwester eben nicht die pubertierende Zicke sein muss, und zu ihrem leicht verweichlichten Bruder Ben eine wirklich innige Beziehung pflegt. Durch diese beiden entsteht eine der eindringlichsten Schlusseinstellungen, die für ein Drama mit diesem selbstzerstörerischen Hintergrund denkbar ist. Es wäre absurd gewesen, eine Auflösung mit versöhnlichem Ende zu inszenieren. Aber es ist ein positiver Ansatz, und dies auf dem glaubwürdigsten Weg möglich.
Darsteller: Jude Law, Carrie Coon, Oona Roche, Charlie Shotwell, Michael Culkin, Adeel Akhtar, James Nelson-Joyce u.a.
Regie & Drehbuch: Sean Durkin
Kamera: Mátyás Erdély
Bildschnitt: Shaheen Baig & Susan Shopmaker
Musik: Richard Reed Parry
Produktionsdesign: James Price
Kanada – Großbritannien / 2020
107 Minuten