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Es ist immer ein trügerisches Idyll. Ein behütetes Umfeld in einer verpflichtenden Gemeinschaft. Alles umgeben mit unterschwelliger Trostlosigkeit aus starren Strukturen. Die reale Atmosphäre einer Kleinstadt. Jeder kennt irgendwie jeden, nicht nur vom Namen her. Wenige schaffen, oder wollen den Ausstieg. Andere zieht es wieder zurück. Beziehungen bestehen seit der High School. Großfamilien über Generationen gewachsen, oder durch Heirat untereinander. Privatsphäre ist relativ, wird aber vorgegaukelt. Geheimnisse sind hinter vorgehaltener Hand längst keine mehr. Es verhindert zumindest weitgehend fragwürdige Auswüchse, wie in einer anonymen Großstadtgesellschaft. Stephen King nutzt dieses Kleinstadt-Idyll gerne, um dieses mit dem Einfall des Bösen in seinen Grundfesten zu erschüttern. Zuletzt hat dieses Horror-Szenario mit der Verfilmung seines Romans THE OUTSIDER für Furore gesorgt. Selbst die übernatürlichen Aspekte haben dieser Faszination für die Demontage einer aufrichtigen Gemeinschaft keinen Abbruch getan. Zuvor gab es ein ähnlich intensives Phänomen mit BIG LITTLE LIES, wo die heile Welt einer integeren Gemeinschaft so brutal erschüttert wurde, dass aus der konzipierten Mini-Serie eine zweite Staffel erwachsen musste.
Mare Sheehan geht auf die Fünfzig zu, und ist in Easttown, Pennsylvania für Kriminalverbrechen zuständig. Bei Mare klingelt auch privat einmal das Telefon, wenn zwei Nachbarn glauben sich gegenseitig absurdester Dinge beschuldigen zu müssen. Auch wenn es nicht einmal ihrer Zuständigkeit unterliegt, bringt das die Kleinstadt eben mit sich. Sie ist bereits Großmutter, und ihr geschiedener Mann lebt mit der neuen Familie direkt nebenan. Mare ist keine glückliche Frau, auch wenn sie es sein könnte. Die Folgen einer Familientragödie sind noch nicht einmal ansatzweise überwunden. Dazu unternimmt eine ehemalige Freundin öffentlichkeitswirksam alles, um Mare zu deskreditieren, weil sie deren verschwundene Tochter nach über einem Jahr noch immer nicht gefunden hat.
Die Atmosphäre, die Serienschöpfer und Drehbuchverfasser Brad Ingelsby aufbaut nimmt sofort gefangen. Und sie fordert. Alle sieben Teile von MARE OF EASTTOWN wurden vom einem Autoren, Regisseur Craig Zobel, sowie Kameramann Ben Richardson realisiert. Das wird sich am Ende der letzten Folge als der entscheidende Faktor für die unglaubliche Intensität und Genialität der gesamten Serie herausstellen. Das umgehend Assoziationen zu oben genannten OUTSIDER und BIG LITTLE LIES geweckt werden, ist berechtigt und nicht zum Schaden des Zuschauers. MARE wird zu einer ähnlich einnehmenden und grandiosen Tour de Force, allerdings mit ganz eigener atmosphärischen Dichte und sehr souveräner Erzählweise.
Ein junges Mädchen wird tot aufgefunden. Wir haben sie schon vorher kennen gelernt, und wissen, dass die junge Mutter nicht nur massive persönliche Probleme hat, sondern dadurch die Dichte von Verdächtigen enorm ansteigt. Und auch hier kennt jeder jeden, und jeder hat mit irgendeinem irgendetwas im Argen. Als Mare die Ermittlungen aufnimmt, sitzt ihr immer noch ein ungelöster Fall im Nacken, der starke Ähnlichkeit zu dem jetzigen hat. Das Geflecht von Easttown und seinen Bewohnern, entwirrt sich für den Zuschauer. Und wie die Macher das in Szene setzen und auflösen, erzeugt von der ersten Folge an eine bindende Spannung.
MARE OF EASTTOWN hält unbeirrt die Balance zwischen persönlichem Drama, effektiven Thriller und Kleinstadt-Milieu. Und diese Handlungselemente sind auch in der Handlung so stark miteinander verzahnt, dass alle Aspekt wirklich gleichermaßen Bedeutung erhalten. Sehr bald ist das eine nicht mehr vom anderen zu trennen, den der Thriller erwächst aus den persönlichen Dramen im Kleinstadt-Milieu. Die untrennbar scheinenden Verbindungen sind das anhaltende Spannungsmoment.
Die Ermittlungen haben natürlich Auswirkungen auf die gesamte Gemeinschaft. Da wird in brenzligen Situationen ständig an die alte Freundschaft appelliert, in Verdachtsmomenten der Familiensinn beschworen, und bei Unannehmlichkeiten auf den Geist der Gemeinschaft verwiesen. Mare ist unentwegt zwischen den Fronten von Pflichterfüllung und Freundschaftsdiensten hin und her gerissen. Ihre Hartnäckigkeit wird solange gepriesen, bis es jemanden im engeren Kreis selbst erwischt. Da werden alte Freundschaften schnell in die Pflicht genommen. Und Mare ist nicht unfehlbar, sie weiß das, und deswegen ist ihr steiniger Weg auch eine ständige Gradwanderung.
Man darf MARE OF EASTTOWN nicht nach seiner Prämisse beurteilen, die wahrlich nicht neu, oder sonderlich originell ist. Aber die sieben extrem kurzweiligen Folgen sind ganz starkes Schauspiel mit sehr ausgeklügelten Handlungsverläufen. Da wird kein Überraschungsbösewicht aus dem Hut, und keine Wendung an den Haaren herbei gezogen. Dennoch wird man immer wieder überrascht und überwältigt, aber alles innerhalb einer homogen Erzählung, die ehrlich und stimmig zu sich selbst und seinen Zuschauern bleibt.
Man fragt sich auch nicht, warum eine Kate Winslet ohne Makeup oder Hairstylist vor die Kamera tritt. Die absolute Stärke in EASTTOWN sind diese authentischen Figuren, die ohne Versatzstück und Klischee-Überzeichnung auskommen. Wenn man die Figuren beobachtet, denkt man selten an ’so möchte ich sein‘, vielmehr an ‚genau wie ich‘. Kaum einer, besonders Mare nicht, verlässt das Haus gut gestylt, Klamotten sind nur pragmatisch. Ein Hauch von Melancholie hüllt alle Szenen ein. Besonders die oftmals improvisierten Schlagabtausche zwischen Winslet und ihrer Filmmutter Jean Smart sind schon Highlight für sich, sind aber ein stimmiges Integral in der komplexen Atmosphäre, und für die Funktionalität von Easttown als glaubwürdiges Gesellschaftsabbild.
Philadelphia English ist der meist studierte und am schwierigsten zu lernende Dialekt in der englischen Sprache. Ausgerechnet die Engländerin Winslet legte als Co-Produzentin sehr großen Wert darauf, dass man dem Dialekt auch in der Serie gerecht wurde. Die Macher wollten Philadelphia nicht einfach nur als wahllosen Handlungsort verstanden wissen, schließlich bezieht die Serie ihre authentische Stimmung aus der Kleinstadt-Atmosphäre. Und bei Authentizität sollte der Dialekt allein aus seinem Alleinstellungsmerkmal heraus eine übergeordnete Rolle spielen. Man entschied sich für den Delco-Akzent, der im westlichen und südlichen Philadelphia gesprochen wird. Ist der Dialekt bei anderen Produktionen gerade bei nicht nativen Schauspielern immer ein kritisch bemerkter Knackpunkt, waren bisher noch keine negativen Stimmen zu MARE OF EASTTOWN laut geworden.
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Darsteller: Kate Winslet, Julianne Nicholson, Jean Smart, Angourie Rice, Evan Peters, John Douglas Thompson, Guy Pearce, Joe Tibbett, Enid Graham u.v.a.
Regie: Craig Zobel
Idee & Drehbücher: Brad Ingelsby
Kamera: Ben Richardson
Bildschnitt: Amy E. Duddleston & Naomi Sunrise Filoramo
Musik: Lele Marchitelli
Produktionsdesign: Keith P. Cunningham
USA / 2021
7 Episoden
zusammen ca. 403 Minuten