BABYLON Fürth
MANHATTAN Erlangen
CINECITTA Nürnberg
und ausgewählten Kinos
-Bundesstart 01.07.2021
Es gibt Filme, die man einfach auf sich wirken lassen muss. Manchmal möchte man nachschlagen, ein bisschen nachhaken, inwieweit die Geschichte wahr ist, was echt im Film, oder was inszeniert wurde. Aber so wie sich NOMADLAND zeigt, wirkt alles wie aus dem Leben gegriffen, es muss wahr sein. Und dann spielt es keine Rolle mehr zu wissen, wo die Grenze zwischen Realität und Inszenierung verläuft. Chloé Zhaos Film wirkt, man nimmt auf, und möchte dann gar nicht mehr hinterfragen.
Und dann kommen solche, die keine Leidenschaft für das Wesentliche entwickeln wollen. Das sind auch oft wirkliche Nomaden. Menschen denen das Schicksal übel mitgespielt hat, denen alles genommen wurde, die nicht aus freien Stücken auf die Straße gegangen sind. Sie beschuldigen die Filmemacherin Zhao naiv zu sein, das harte Leben auf der Straße und im mobilen Heim zu romantisieren. Der Film wäre nicht realistisch.
Für 65 Jahre wurde in Empire, Nevada Gips abgebaut. Eine Siedlung die mit und durch ein einziges Unternehmen gewachsen ist, wie sie für Amerikas kargere Landstriche typisch sind. 2011 schließt US Gypsum die Mine, fast eine ganze Stadt verliert ihre Existenzgrundlage. Als Geisterstadt bleibt Empire bestehen, aber die Postleitzahl 89405 wird aus dem Verzeichnis gestrichen. Im Schatten dieser Ereignisse stirbt der Ehemann von Fern. Auf sich allein gestellt und ohne Job, verliert sie auch noch ihr Haus und das Wohnrecht in Empire.
Wie in ihren Filmen vorher, ist auch NOMADLAND eher Zustandsbeschreibung als dramatisierte Erzählung. Die Kultur des Nomadenlebens ist Sinnbild für eine dysfunktionale Gesellschaft. Der Hauch eines funktionierenden Wertesystems innerhalb des Kreises von Betroffenen mag tatsächlich romantisierende Ideale vorgeben. Auch die Anmut von Freiheit wird angedeutet. Fern ist eine besonnene Person, die nicht weint, oder jammert, aber auch keinen überschwänglichen Enthusiasmus verströmt. Sie funktioniert. Es ist aber weder romantisch, noch mit dem Begriff Freiheit verbunden, wenn man einfach nur funktioniert.
Im Winter Päckchen bei Amazons erhöhtem Weihnachtsgeschäft versandfertig machen, im Sommer während der Urlaubszeit auf einem Wohnwagenstellplatz Ordnung halten und Sanitäranlagen putzen. Dazwischen zusehen was sich als Saisonarbeit auftut. Über die Runden zu kommen ist etwas anderes als seinen Traum leben. Dennoch kann Fern auch poetisch anmutende Momente genießen. Und mit ihr tut das auch der Zuschauer als stummer Beobachter. Joshua James Richards ist nicht nur Kameramann, der die Sicht des Zuschauer übernimmt, er ist gleichzeitig Ausstatter und Set-Designer. Das ist ungewöhnlich, war aber sichtlich notwendig. Nicht nur eine real stimmige Bild-Atmosphäre wird erhalten, auch der Spiel und Aktionsfluss wird so wenig wie möglich vom Produktionsablauf gestört.
Die Gründe für das Leben auf der Straße sind unterschiedlich, wie Fern nach und nach lernt. Oft ist es Arbeitslosigkeit, hauptsächlich sind es aber unzureichende, oder gar nicht vorhandene Rentenbezüge. Es ist eine Gemeinschaft für sich. Lose Bekanntschaften die sich immer wieder an bestimmten Orten für kurze Zeit zusammenfinden. Philosophieren am Lagerfeuer, Erfahrungsaustausch, oder auch Tanzabende. Gewechselte Innenausstattungen oder erneuerte Accessoires werden zur freien Verfügungen für andere zusammengetragen. Und Frances McDormand wandelt dabei zwischen echten Typen und kauzigen Originalen, als ob sie schon immer dabei wäre.
Eine Geschichte erzählt NOMADLAND nicht. Aber in Ferns Selbstfindung bekommt der Film einen Kern. Es gibt vieles für das Fern noch nicht bereit ist. Dazu muss sie erst loslassen lernen. Was einer freundschaftlichen Beziehung am nächsten kommt, findet sie in Swankie. Immer wieder treffen sie sich auf Stellplätzen, oder arbeiten einmal sogar eine Saison zusammen. Durch Swankie erfährt Fern die einfachen Dinge zu schätzen, wodurch sie auch ihr auf den Kopf gestelltes Leben ordnen lernt. Fern erfährt von Swankies schönsten Lebensmomenten. Es sind Bilder die auch sie weiter begleiten werden.
Chloé Zhao verzichtet auf jeden dramaturgischen Effekt. Manchmal benutzt sich auch Standardsituationen für sonst übliche Spannungsmomente, um diese ins Gegenteil zu verkehren, wie das Zusammentreffen mit einem Obdachlosen, der ins Schema des unberechenbaren Junkies passen könnte. Weiterhin verzichtet Zhao auch auf Belehrungen, Lösungen und populistische Weisheiten. Sie lässt ihre Figuren einfach sie selbst sein. Was mit ganz wenigen Ausnahmen auch tatsächlich zutrifft. Die Gemeinschaft von mobilen Heimbesitzern werden von wirklichen Nomaden verkörpert, die auch mit ihrem Realnamen auftreten. Selbst David Strathairns Charakter wird Dave genannt, und sein wirklicher Sohn Tay verkörpert seinen Filmsohn. Nur um Irritation so gering wie möglich zu halten, wird aus Frances McDormand einfach nur Fern.
Die Stärke bei NOMADLAND ist seine Ruhe. Er hat durchaus etwas poetisches, aber nicht wirklich romantisierendes. Es geht auch nicht um das Für und Wieder auf der Straße, sondern um das Gefühl irgendwo dazwischen.
In 2016 kaufte die Empire Mining Company Stadt und Mine, und nahm den Betrieb wieder auf. Seither befindet sich Empire wieder in einem wirtschaftlichen Aufschwung.
Bei der Oscar-Verleihung im April 2021erinnerte Frances McDormand mit einem Wolfsheulen an den verstorbenen Tontechniker Mike Wolf Snyder.
Darsteller: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Peter Spears, Derek Endres, Tay Strathairn u.v.a.
Regie, Bildschnitt & Drehbuch: Chloé Zhao
nach dem Buch von Jessica Bruder
Kamera & Produktionsdesign: Joshua James Richards
Musik: Ludovico Einaudi
Deutschland – USA / 2020
107 Minuten