Netflix ab 22.01.2021
THE WHITE TIGER
Es gibt viele Legenden um den weißen Tiger. In freier Wildbahn ist er nur in Indien beheimatet, und man sagt nur einmal in einer Generation wird ein weißer Tiger geboren. Balram wächst zwar in ärmlichsten Verhältnissen irgendwo in der indischen Provinz auf, ist aber davon überzeugt, dieser weiße Tiger in seiner Familie zu sein. Auch wenn er in eine Kaste geboren wurde, die dazu bestimmt ist ausschließlich anderen zu dienen. Als der Grundbesitzer des Dorfes einen neuen Fahrer sucht, sieht Balram seine Chance, aus der aussichtslosen Armut seiner Heimat zu entfliehen. Nicht auf den Kopf gefallen, trickst er sich schnell in der Diener-Hierarchie seiner Arbeitgeber nach oben. Demütigungen, Misshandlungen und kaum Bezahlung nimmt er gelassen hin. Seiner Kaste ist es schließlich bestimmt zu dienen, und Balram dient wenigstens in der Oberschicht.
Manchmal ist der WEISSE TIGER auf eine unbeschwerte Art sehr lustig, oftmals zynisch und bitterböse. Das Hin und Her, welches Regisseur und Drehbuchautor Ramin Bahrani mit seinen emotionalen Stimmungen erzeugt, beschwört dabei eine stetig schmerzende Atmosphäre. Der Film nach dem Bestseller von Aravind Adiga, ist auf seine ganz eigene Weise brutal. Bahrani braucht sich dabei keiner Klischees aus dem modernen Kino bedienen. Auch wenn sich Vergleiche zu De Palmas SCARFACE anbieten, und damit die Möglichkeiten zur drastischen Zuschaustellung von Gewalt.
Es gelingt Paolo Carneras Kamera durchweg atmosphärische Bilder zu zeichnen, doch sind dies keine Hochglanz-Verklärungen. Selbst der Eingang zum edlen Sheraton Hotel zeigt sich als Luxus welcher nüchtern und zweckdienlich bleibt. Die kalten und abweisenden Fassaden der Hochhäuser symbolisieren Wohlstand, es ist aber eine Kulisse, die nur der arme Narr vom Land für erstrebenswert hält. Dennoch werden die Settings kaum in der Vordergrund gerückt, oder bewusst als erzählerisches Element genutzt.
Baharani hält den Fokus ganz gezielt auf Balram und seinen schwankenden Intentionen. Selbst der frisch vermählte Sohn des Patriarchen, der mit seiner Frau aus Amerika zurück gekehrt ist, erhält kaum erklärenden Freiraum für seinen Charakter. Was Balram als zentrale Figur noch viel näher an den Zuschauer bringt. Und das vom amerikanischen Westen geprägte Publikum wünscht sich sehr schnell eine kathartische Auflösung nach dem Vorbild von SCARFACE.
Doch der Hauptcharakter sieht das ganz anders, weil es ihm durch seine Kaste bestimmt ist zu dienen. Doch gedemütigt zu werden, sich zu unterwerfen, dass ist die eine Seite. Betrug allerdings, das ist selbst für Balram etwas ganz anderes. Und Betrug ist es, der in ihm den weißen Tiger frei lässt. Nicht die körperliche oder materielle Manipulation, sondern der Verrat an der persönlichen, scheinbar vertrauten Beziehung. Die Auswirkungen sind drastisch, aber konsequent.
Man muss sich auf die fast schon ruhige Erzählweise von Ramin Bahranis Inszenierung einstellen können. Gerade weil sich die Handlung so sehr auf diesen einen Charakter konzentriert, zeigt der WEISSE TIGER ein sehr eindringliches Bild einer Gesellschaft und ihrer festgefahrenen Strukturen. Diese Gesellschaft ist geläufig, aber nicht wirklich bekannt. Bahrani erzeugt eine persönliche Bindung nicht zur Geschichte selbst, sondern zu ihrem Hintergrund.
Das Balram seine Geschichte in Form einer E-Mail an den chinesischen Premierminister erzählt, lässt den Film viel mehr Raum für einzelne Situationen und ihre atmosphärische Wirkung. Was manche Szenen fast bis zum zerreißen anspannt. Aber es lässt mit der Off-Stimme auch die Freiheit, über den gesellschaftlichen und politischen Tellerrand hinausschauen. Zum Beispiel, wie Balram ein nicht so abwegiges Weltbild zeichnet, was sein Motivation nicht entschuldigen soll, aber nachvollziehbar macht.
DER WEISSE TIGER ist ein starker, sehr ungewöhnlicher, durchweg faszinierender Film. Mit dem kleinen Nachteil seines selten überzeugenden Hauptdarstellers. Adarsh Gourav überzeugt als anfänglich naiver Tor, mit unerschütterlichem, aber dümmlichen Dauergrinsen. Und diese Figur erfährt selbst über die narrative Entwicklung hinaus kaum Veränderung. Was Gouravs Charakter an Wandlung oder emotionalen Ausbrüchen einbringt, sind klare Regieanweisungen und Führung von Seiten der Regie.
Auch wenn die Faszination des Films kaum von den Qualitäten seines Hauptprotagonisten ausgeht, überzeugt er zumindest mit einer großen Verspieltheit in den Details und dem Verzicht auf eine festgefahrene schwarzweiß Zeichnung. Selbst die vorgeblich Bösen, unterliegen der Dynamik des Systems. Die inszenatorische Stringenz hält den Film auf sehr hohem Niveau hält.
Darsteller: Adarsh Gourav, Rajkummar Rao, Priyanka Chopra, Mahesh Manjrekar, Vijay Maurya, Swaroop Sampat, Nalneesh Neel u.a.
Regie & Drehbuch: Ramin Bahrani
nach dem Buch von Aravind Adiga
Kamera: Paolo Carnera
Bildschnitt: Ramin Bahrani, Tim Streeto
Musik: Danny Bensi, Saunder Jurriaans
Produktionsdesign: Chad Keith
Indien – USA / 2021
125 Minuten