KAJILLIONAIRE
– Bundesstart 22.10.2020
Die viel zu weiten Klamotten können zweierlei bedeuten. Das die Familie Dyne ihre Kleidung aus dem Spendencontainer bezieht, oder das sie mit ihrem Aussehen und Auftreten nicht auffallen wollen. Ersteres ist wahrscheinlich, und mit zweitem ist das kaum möglich. Was aber nicht lange auf sich warten lässt, ist die Erkenntnis, dass die Dynes als Individuen in ihrer Kleidung verschwinden. Man nimmt sie nicht als Persönlichkeiten wahr, sondern lediglich als weitere Gestalten die sich in den Randbezirken von Los Angeles tummeln. Aber es sind keine verwahrlosten, keiner heruntergekommenen Menschen. Sie fallen nur auf, weil sie glauben so nicht aufzufallen. Tochter, Mutter und Vater sind Trickser, Betrüger und Diebe. Ihre Ausbeuten sind meist geringer, als wenn sie die Geschädigten vielleicht direkt angeschnorrt hätten.
Filmemacherin Miranda July hat ja schon seit geraumer Zeit ein bestimmtes Publikum. Zuschauer die dem Skurrilen etwas abgewinnen können, die schräge aber präzise beschriebene Charaktere zu schätzen wissen. ICH UND DU UND ALLE DIE WIR KENNEN wurde begeistert aufgenommen, während THE FUTURE ob seiner Obskurität schon ein wenig Kopfzerbrechen bereitete. So dürften es dann geneigter Kinogänger auch mit KAJILLIONAIRE nicht ganz einfach haben. Miranda July weiß was sie erzählen will, wie sie es erzählt, muss der Beobachter für sich entdecken.
Sie versuchen die Summe eines gefundenen Geschenkgutschein in bar ausgezahlt zu bekommen. Zu einer exakt abgestimmten Zeit wird durch ein Postschließfach hindurch in die anderen Fächer gegriffen. Nach der Landung verlassen sie als letztes das Flugzeug, trinken die Reste von den anderen Plätzen und sammeln sämtliche übrig gebliebenen Erdnusstütchen. Oder für wenige Dollar setzt man sich als Platzdouble in eine Pflichtveranstaltung. Meistens ist es Old Dolio die diese Dinge verrichten muss – ja sie heißt tatsächlich so. Eigentlich hübsch und intelligent, hat sie selbst mit 24 Jahren noch nicht ihre Weiblichkeit gefunden. Ihre anerzogene Lebensweise ließ das einfach nicht zu.
Man mag einiges von Wes Anderson absurden Tragikomödien gewohnt sein, und diese Kleinode dafür lieben. Auch wenn man zuerst glaubt das July die selbe Richtung eingeschlagen hat, trifft es den Kern nicht wirklich. Die Geschichte selbst bezieht keine Stellung, wie die Protagonisten welche eigentlich Antagonisten sein müssten, einzuschätzen sind. Sie sind die Helden der Handlung, aber nicht die Helden ihres Lebens. Es sind keine Figuren die man als böse empfindet, oder zujubeln möchte. Der Beobachter begibt sich selbst auf die Suche.
Wirklichen Schaden fügen die Dynes niemanden zu, mit ihren geradezu lächerlichen Ausbeuten, für die der Aufwand diese zu ergaunern um ein vielfaches größer ist als der finanzielle Wert. Aber für Mutter Theresa (extra mit H) und Vater Robert ist es ein Lebensentwurf. Für Old Dolio ist es Automatismus. Wie sie redet, sich bewegt, einfach nur dasteht, ist Old Dolio sich einfach selber fremd. Die Norm einer funktionierenden Familie hat sie nie kennengelernt. Sie ist keine Tochter, sondern gleichberechtigter, oder vielleicht sogar ausgebeuteter Partner. Bis Melanie in das Leben des Trios platzt.
Die meisten Szenen lässt July im strahlenden Licht spielen, so als ob der Film ein angenehmer Spaziergang sein könnte. Aber Sebastian Winterøs Bildgestaltung lässt emotional tiefer blicken. Die Szenen sind meist symmetrisch gestaltet, die Darsteller allesamt gleichwertig im Bild gewichtet. Die letztendlich vier Hauptdarsteller bestimmen ihre Welt, die das Zentrum von allem bilden. Und das ist in erster Linie die Bindung des Zuschauers, der zwischen Verwunderung und Hingabe hin und her gerissen wird. Äußerst selten gelingt es einem Film, Figuren wie Theresa und Robert mit so viel negativem Charisma zu belegen, und sie gleichzeitig so bedauernswert zu inszenieren.
Evan Rachel Wood geht in ihrer Rolle auf, dass es fast schmerzt. Hinreißend und zerbrechlich zugleich. In einer Schlüsselszene versucht das Quartett einen sterbenden Mann auszunehmen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als noch einmal Geräusche von ganz normalen Familienleben von seinem Sterbebett aus zu hören. Das ist in vielerlei Hinsicht bewegend, weil der Wunsch des Mannes einerseits den Zuschauer berührt, auf der anderen Seite verhalten sich die Vier das erste mal wie eine richtige Familie. Zuerst ausgelassen spielerisch, und plötzlich mit einer absonderlichen Normalität. Für Old Dolio die Erkenntnis, was ihr bisher vorenthalten wurde, was ihr ohne es zu wissen gefehlt hat.
Miranda July hat tatsächlich ein kleines Juwel geschaffen, welches das gesamte Spektrum von unkonventionellem Kino in sich aufnimmt. KAJILLIONAIRE ist witzig, klug, unterhaltsam, absonderlich, makaber, doch immer sehr berührend. Und er beherrscht die seltene Gabe, tieftraurige Momente unglaublich amüsant zu gestalten, oder in sehr witzigen Szenen die schmerzliche Tragik heraus zu arbeiten. So wird der letzte Coup der Dyne Eltern, in all seiner Abscheulichkeit, zu einem besonderem Befreiungsschlag, der dem Betrachter diese absurde und surreale Welt noch ein Stück liebenswerter macht.
Darsteller: Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Debra Winger, Richard Jenkins, Mark Ivanir, Diana Maria Riva, Patricia Belcher u.a.
Regie & Drehbuch: Miranda July
Kamera: Sebastian Winterø
Bildschnitt: Jennifer Vecchiarello
Musik: Emile Mosseri
Produktionsdesign: Sam Lisenco
USA / 2020
104 Minuten