NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER

Never Rarely 1 - Copyright FOCUS FEATURENEVER RARELY SOMETIMES EVER
– Bundesstart 01.10.2020

Inwieweit man als Zuschauer schon die Mechanismen des Kinos verinnerlicht hat, kann man bei NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER einen fast schon bitteren Rückschlag erfahren. Die Filmautorin Eliza Hittman hat mit ihrem dritten Langfilm nicht nur eine neuen Standard bei ihrem Lieblingsthema von Jugend und Sexualität gesetzt, sondern das Erzählkino grundsätzlich auf den Kopf gestellt. Gleich welche Szene Hittman in NIEMALS beginnt, glaubt man sich als Beobachter schon im intellektuellen Vorteil nach Erfahrungswerten und Sachverstand. Doch so wie Kino nicht unbedingt das reale Leben wiedergibt, muss Kino auch nicht zwangsläufig nach funktionalen Standards konzipiert sein. So kann NIEMALS sein Publikum gleichwohl überraschen, verwundern, begeistern, langweilen oder sogar verändern.

Durch die unterschiedlichen Gesetzgebungen in den Vereinigten Staaten, ist es für Frauen in verschiedenen Bundesstaaten extrem schwierig, sich einer legalen Abtreibung zu unterziehen. Und mancherorts ist es für minderjährige Mädchen sogar unmöglich, oder selbst mit Einverständniserklärung extrem schwierig. In Pennsylvania steht die siebzehnjährige Autumn vor diesem Problem. Mit ihrer Cousine und einzigen Hilfe Skylar wird es für Autumn eine schmerzhafte Reise nach New York, finanziell kaum zu stemmen, aber in erster Linie emotional überwältigend.

Der vollkommene Verzicht auf eine Erzählung, dürfte für viele befremdlich wirken. Obwohl man sich der gegebenen Faszination schwer entziehen kann. Je weiter der Film voranschreitet, umso unwirklicher erscheint er, und wirkt in einigen Passagen sogar unangenehm. Wir erfahren so gut wie nichts über die Charaktere, weder Autumn noch Skylar. Alles was man sonst an üblicher Charakterexposition erlebt, ergibt sich lediglich aus dem Moment heraus. Was sie im Nebenjob arbeiten, das Verhältnis zu ihrem Chef, ein typisch pubertierendes Verhalten gegenüber der Familie, das man als Minderjährige in Pennsylvania nicht ohne große Schwierigkeiten abtreiben kann.

Es ist sehr schwer eine Bindung zu Autumn aufzubauen. Nicht nur ihrer Familie gegenüber ist sie restriktiv abweisend, auch dem Zuschauer erklärt sie sich nicht. Der Grund ihrer Schwangerschaft, die Beziehung zu ihren Eltern, das Verhältnis zu Skylar, oder warum Autumn überhaupt abtreiben will. Die Inszenierung lässt auch völlig offen, ob Autumns defensives oft abwesend wirkendes Wesen ihrem natürlichen Charakter entspricht oder den ungewöhnlichen Umständen geschuldet ist. Eliza Hittman scheut sich nicht, Szenen sehr lange stehen zu lassen, die Figuren nur zu beobachten, und Situationen auch häufiger zu wiederholen. Wie Autumns versonnener Blick aus diversen Fenstern, wo sie sich selbst in der Spiegelung betrachtet.

Never Rarely 3 - Copyright FOCUS FEATURE

NIEMALS ist es einfach der Odyssee zu folgen, in der alles nur grau und nicht einladend wirkt. Wo man aber längst in der beabsichtigten Lethargie mit gefangen ist. Erst bei einem psychologischen Vorgespräch in New York, welches letztendlich den sperrigen Titel erklärt, der sich dann als perfekte Gestaltung entpuppt, muss sich Autumn öffnen. Hier kulminiert der gesamte Film, selbst sein noch ausstehendes Ende. Diese in einer einzigen Einstellung gedrehte Sequenz, bringt einem die Hauptfigur viel näher, als es endlos gutgemeinte Dialoge könnten.

SELTEN hat sich ein Film mit einer einzigen Szene so auf den Kopf gestellt. So unvermittelt nahe man Autumn auf einmal kommt, desto erschrockener stellt man fest, dass es überhaupt nicht um ein Einzelschicksal geht. Und vor allem, wie verkehrt diese immer wieder vielbeschworen aufgeklärte Welt wirklich ist. Auch wenn man weiterhin unglaublich wenig über die Charaktere erfährt, so versteht man sie vollkommen. Selbst Skylar, die selbst einen distanzierten Eindruck gegenüber Autumn macht, aber unbeirrt an ihrer Seite steht.

MANCHMAL gibt es Filme die sich einem nur schwer erschließen, weil sie eine emotionale Bindung zu ihren Figuren verweigern. Der Verzicht auf eine narrative Handlung macht es dem Zuschauer auch nicht leichter. So wird Autumn zu einer Person der eigenen persönlichen Empfindungen. Man ersinnt sich selbst alle möglichen Szenarien für Autumns Schicksal, und gestaltet wider Erwarten einen individuellen Charakter. Ein Charakter der einem unvermittelt sehr vertraut ist.

IMMER wieder gibt es Filme die im Presseecho und Festivalstaumel Ovationen auslösen, die einem selbst merkwürdig bisweilen nicht nachvollziehbar erscheinen. Was hier allerdings sofort auffällt und die Sinne schärft, ist diese einnehmende Authentizität in Spiel, Inszenierung und die der Darsteller. Es würde sehr schwer fallen sich davon zu lösen. So kann NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER sein Publikum gleichwohl überraschen, verwundern, begeistern, langweilen oder sogar verändern. Aber mit Sicherheit er wird keinen wirklich kalt lassen.

Never Rarely 2 - Copyright FOCUS FEATURE

 

Darsteller: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Sharon Van Etten, Ryan Eggold u.a.
Regie & Drehbuch: Eliza Hitman
Kamera: Hélène Louvart
Bildschnitt: Scott Cummings
Musik: Julia Holter
Produktionsdesign: Meredith Lippincroft
Großbritannien – USA / 2020
101 Minuten

Bildrechte: UNIVERSAL PICTURES INTERNATIONAL
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Im Kino gesehen abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar