SEBERG – Bundesstart 17.09.2020
Nicht viele Szenen in SEBERG können überzeugend wiedergeben, wie perfide und gleichzeitig überlegen das System war. Zwei schwarze Frauen schminken sich in der Spiegelung der Scheiben eines Busses. Sie wissen nicht, dass diese Scheiben extrem getönt sind, sie können nicht ins Innere blicken. Es ist ein Überwachungsfahrzeug und FBI-Agent Jack Solomon blickt diesen nichtsahnenden Frauen aus einem halben Meter Entfernung direkt in die Augen. Wir sehen Euch, sagt diese Szene, aber ihr könnt uns nicht sehen. Ihr habt keine Ahnung.
Dieser Moment verdeutlicht auf sehr unheimlich eindringliche Weise eine Struktur, gegen die man selbst im aufgeklärten Jahre 1969 noch machtlos war. Hier wirkt sie auf zwei Ebenen, in dem das System vermeintliche Gegner der gesellschaftlichen Ordnung diskreditieren konnte, und eine, welche die im vollen Gange befindliche afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Zaum hielt. Die Schauspielerin Jean Seberg wurde Opfer auf beiden Ebenen.
Die Stilikone im schauspielerischen sowie optischen Sinne ist seit ihrem überwältigenden Erfolg mit Godards AUSSER ATEM 1959 auf einem steten Höhenflug. Als die Wahlfranzösin 1968 für Dreharbeiten in die Vereinigten Staaten zurückkehrt, lernt sie auf dem Flug den Black Panther Aktivisten Hakim Jamal kennen. Wie weit die Beziehung der beiden ging ist nicht wirklich bekannt, im Film jedenfalls kommt es zu einer intensiven Affäre. Warum Joe Shrapnel und Anna Waterhouse das in ihrem Drehbuch so verfassten, lässt sich nicht ganz nachvollziehen, halten sie sich in ihren Handlungspunkten doch weitgehend an die wirklichen Ereignisse. Vielleich liegt es daran, dass es weder den Autoren noch Regisseur Benedict Andrews gelingt, die Facetten von Jean Sebergs Wesen in einem ihr gerecht werdenden Umfang zu erfassen. Denn SEBERG will nicht einfach Biografie sein, sondern exemplarisches Beispiel für das 15 Jahre illegal vom FBI betriebene COINTELPRO, dem Counterintelligence Program. Unterwanderung, Denunziation, illegale Gewaltanwendung, psychologische Kriegsführung, anonyme Belästigung. Als sich Seberg mit Jamal beim Black Power Gruß vor der gesamten US-Presse fotografieren lässt, wird sie automatisch Opfer von COINTELPRO, und persönliches Hassobjekt des paranoiden J. Edgar Hoover.
Der Film zeichnet sehr genau die Schritte nach, wie Seberg nach und nach gebrochen wird. Zuerst glaubt sie über den Dingen zu stehen, doch zu den grausamen Methoden des FBI gehört auch Familie und Freunde der ausgewählten Person durch die schmutzigen Kampagnen leiden zu lassen. Sebergs endgültiger Zusammenbruch kommt schließlich mit einer gezielten Falschmeldung an die Presseorgane. Damit der Film eine gewisse Balance bekommt, stellt man der hilflosen Schauspielerin den idealistischen Agenten Jack Solomon gegenüber. Am Anfang ist er in erster Linie von sich selbst überzeugt, und dann erst von den fragwürdigen Methoden seines Arbeitgebers. Solomons erste Zweifel keimen auf, als er wegen der mentalen Belastung durch seinen Job das erste mal Streit mit seiner Frau bekommt. War Jack Solomon in Wirklichkeit ein grundsätzlich rücksichtsloser Typ, schreibt ihm Drehbuch und Inszenierung sozusagen das Gewissen eines gerechten Amerikas auf den Charakter. Am Ende ist es nur für den Zuschauer von dramaturgischer Bedeutung. Was es für Seberg bedeutet hätte, dass sie unvermittelt ein Gesicht zu dem Unrecht bekommen würde, welches ihr argloses Leben zerstörte, bleibt Spekulation.
In weiten Teilen hat Regisseur Benedict Andrews viel mehr Wert auf die Charakterisierung der Personen um die eigentliche Hauptperson gelegt. Und das ist nicht ganz nachzuvollziehen, geht Kristen Stewart doch voll und ganz in ihrer Darbietung auf. Das überflüssige Prädikat von ‚ihre beste Darstellung bisher‘ wäre auch hier nicht von Bedeutung. Sicher ist, dass Stewart mit ihrer physischen und charismatischen Präsenz zu wesentlich mehr in der Lage gewesen wäre. Aber über den Charakter der Jean Seberg erfährt man leider nur soviel, wie es die Dramaturgie für die Handlungsstruktur erfordert. Yvan Attal als Sebergs zweiter Ehemann, der Autor und Regisseur Romain Gary, verblüfft mit einer stoischen Gelassenheit, in der man die betrogene Liebe zu seiner Frau wirklich spüren kann. Doch als tiefgründigste Figur erweist sich Jack O’Connells Agent Solomon, der in sehr subtilen Zügen eine realistische Wandlung vom Schreckgespenst zum Geläuterten macht, Dank seiner hervorragend nuancierten Darstellung.
Für eine bekannte Geschichte, deren nähere Umstände und Verflechtungen kaum jemand wirklich kennt, eignet sich SEBERG als sehr eindringliche und spannende Lehrstunde. Verstärkend kommt ein hervorragend gelungenes Zeitkolorit hinzu, und ein Produktionsdesign das beste Arbeit geleistet und die richtige Atmosphäre getroffen hat. Dafür verzichtet die Inszenierung so weit möglich auf spielerische Querverweise, oder aufdringliche Hervorhebungen bezüglich bekannter Namen, Filme oder irrelevanter Ereignisse, was dem Film merklich gut tut. Vielleicht entschließt man sich auf Produktionsebene dazu, eine Biografie zu drehen, welche Jean Sebergs letzten Jahre in Frankreich behandelt. Nur um Kristen Stewart noch einmal in einer Rolle zu erleben, in der sie scheinbar vollkommen in sich aufgeht.
Darsteller: Kristen Stewart, Yvan Attal, Gabriel Sky, Colm Meaney, Anthony Mackie, Vince Vaughn, Jack O’Connell, Margaret Qualley u.a.
Regie: Benedict Andrews
Drehbuch: Joe Shrapnel, Anna Waterhouse
Kamera: Rachel Morrison
Bildschnitt: Pamela Martin
Musik: Jed Kurzel
Produktionsdesign: Jahim Assa
Großbritannien – USA / 2019
104 Minuten