TENET – Bundesstart 26.08.2020
Wenn der Abspann von TENET beginnt, nüchterne weiße Buchstaben auf schwarzen Grund mit ‚The Plan‘ von Travis Scott aus wummernden Surround-Lautsprechern, beginnt man im Gedanken den Film automatisch von vorne. Was ist mit dem ‚Protagonisten‘ nach der fulminanten Eröffnungssequenz wirklich geschehen? Und wie fügt es sich in den weiteren Handlungsverlauf? War es Zukunft oder Vergangenheit, wenn, dann in welche Richtung? Auf alle Fälle wird es nur sehr wenige Zuschauer geben, die diesen Film nach dem Besuch einfach als Loch im Raum-Zeit-Kontinuum abhaken werden. Kinetische Polarisation ist programmiert, denn wer auch immer sich diese 150 Minuten angetan hat, will auch verstehen. Das wird aber nicht ohne Kontroverse, Leidenschaft oder Resignation funktionieren. Vielen Zuschauern wird Christopher Nolans Messlatte für das Konzept des irrealen Verwirrspiels zu hoch angelegt sein. Wer nicht bereit ist, den ganzen Weg zu gehen, wird kaum Freude daran haben.
Der Auftrag des ‚Protagonisten‘ ist relativ klar. Der CIA-Agent soll den dritten Weltkrieg verhindern. Und im wahrsten Sinne des Spruches, wird es ein Wettlauf gegen die Zeit. Irgendwann in der Zukunft wurde eine Maschine entwickelt, mit der sich Menschen und Gegenstände rückwärts durch die Zeit bewegen. Inversion. Aus deren Sicht heraus, entsprechend vorwärts. Deren Vergangenheit ist in der realen Zeitlinie also unsere Zukunft. bei seinen fortschreitenden Ermittlungen wird der Agent immer wieder mit Situationen konfrontiert, wo er nicht sicher sein kann, ob sie bereits stattgefunden haben, oder jetzt erst stattfinden werden. Denn ein russischer Oligarch hat mit diesem physikalischen Wahnsinn einiges an Weltveränderung vor, und will sich da von einem unbedeutenden Agenten nicht in die Zeitlinie fahren lassen. Da kommt der gute Rat der Wissenschaftlerin Laura genau richtig: „Versuchen sie es nicht zu verstehen. Fühlen sie es.“
Mit diesem Satz, hat sich Christopher Nolan seinen verwundbarsten Punkt selbst ins Drehbuch geschrieben. Er wird als Speerspitze für die meisten negativen Kritiken herhalten müssen. Wenngleich man diese Wort ebenso präzise gegen diese missbilligenden Kritiker führen kann. Denn fühlen, ist die stärkste Eigenschaft in der ununterbrochen auf Tempo gehaltenen Inszenierung. Die ruhigen Momente sind rar, und selbst die atmen noch diesen ungebändigten Rhythmus des Spannungsaufbau. Denn das Drehbuch hat keine Pausen vorgesehen. Jede Sequenz ist für das Narrativ essentiell. Wer hat was vor, und warum geschieht dies und nicht das, oder können wir hier oder müssen wir dort. Tatsächlich gibt es keine Charakterentwicklung die Relevanz besäße, sondern ist höchstens in den Fluss einzelner Szenen eingewoben. Christopher Nolan bezeichnet TENET schließlich als Spionage-Thriller, und nicht als psychologisches Drama. Diese Art von Film gibt es schon zu genüge. Mit INSOMNIA hat Nolan einen solchen Film schon selbst gemacht, wo der Krimi unmerklich ins Psychogram wechselte. Unbeirrt fokussiert sich die Handlung auf das Leitmotiv um Zeit und Inversion. Lediglich bei Robert Pattinsons Figur des undurchsichtigen Agenten Neil, der die einzige Hoffnung für den Protagonisten bleibt, werden leichte Veränderungen wahrgenommen. Pattinson macht im Verlauf mehr und mehr einen verstärkt amüsierten Eindruck, was sogar soweit geht, dass man annehmen könnte, er würde überhaupt nicht ernst nehmen, was er hier im Film tut. Erst wenn der Abspann läuft und man sehr tief gräbt, macht Neils allzu entspanntes Verhalten durchaus Sinn. So ist das eben, wenn man mit dem Verlauf der Zeit spielt.
Mit jedem Set-Piece, wo Angriffe aus der Zukunft erfolgen, steigern sich zumindest bei dem zugetanen Publikum die unterdrückten, aber berauschten Jubelrufe. Denn was immer aus der Zukunft kommt, ist wegen der Inversion bereits am Ende der Mission, an dem Punkt, wo der Kontrahent in der normalen Zeitlinie unvorbereitet am Beginn steht. Die Begeisterung des Zuschauers liegt nicht beim fähigen handeln des Helden, sondern richtet er gegen sich selbst, ob er tatsächlich dem abstrakten Geschehen folgen kann. Es wird in der ersten Hälfte immer darauf hinauslaufen, dass man nicht versteht, aber es fühlt. Unweigerlich schwingt eine existenzielle Frage immer mit. Ist es überhaupt möglich, dass sich ein Film mit seiner Idee tatsächlich so weit verhebt, dass es wirklich keinen Sinn mehr ergibt? Ein Film in dieser Preisklasse, von diesem Filmemacher? Denn dass hier ganz großes Kino geboten ist, in jedem Element und von allen Branchen, wird vom ersten Bild an manifestiert und gehalten. Hoyte Van Hoytema hat sich längst als Kollaborateur in Sachen Bildgestaltung bei Christopher Nolan etabliert, seit Wally Pfister sich für einen Karrierewandel entschieden hatte. Allein anhand von INTERSTELLAR und DUNKIRK kann man sehen, wie grandios Van Hoytema die Visualisierung der Themen als dramaturgisches Mittel einzusetzen versteht. Hier ist es etwas anders, weil Van Hoytema und seine Arbeit gleichwertig im Gesamtkonzept mit aufgeht. Er führt den Zuschauer hinein in die Aktionen, im wahrsten Sinne. Viele Kameraleute versuchen das, scheitern aber an obskuren Vorstellungen von physischer und optischer Nähe zu den Protagonisten. Sehr präzise weiß die Kamera auch gebührenden Abstand zu wahren, und fast schon als kleines Novum im modernen Kino, der Zuschauer verliert nie den Überblick. Trotz der angezogenen Schnittrate weiß man immer welche Figur was macht, oder wo sie sich in der Szenerie befindet.
Auffallend ist die zurückhaltende Farbsättigung, welche tatsächlich mehr den Charakter eines modernen Spionage-Thrillers trägt, anstelle eines verspielten Abenteuerfilmes. Nur eine Sequenz zeigt ein komplett veränderte Farbgebung. Der Zuschauer wird es nur unterbewusst wahrnehmen. Aber bei diesem Film darf man guten Gewissens annehmen, dass nichts willkürlich geschieht, und alles durchdacht sein wird. Wie es auch mit der Handlung sein muss. Kurz bevor der Film droht ins Leere zu laufen, sei es wegen sich wiederholender Handlungselemente, oder einer abweichenden Aufmerksamkeitsspanne, kommt der große Aha-Effekt in der zweiten Hälfte. Nolan verlässt die lineare Erzählstruktur. Dabei werden zwei neue, parallele Ebenen geöffnet. Es werden nicht nur die vorangegangenen, durch die Inversion beeinflussten Szenen aufgelöst, sondern die Geschichte um ein wesentliches Level erweitert.
Ein altes Markenzeichen des unbeirrten Filmkünstlers, ist der unkonventionelle Szenenübergang. Bei TENET wird dies fast schon auf die Spitze getrieben. Szenen beginnen, oder werden durch einen harten Schnitt beendet, oftmals sogar in einen Dialog hinein. Allerdings sind die einzelnen Sequenzen sehr geschmeidig und übersichtlich montiert, verlieren aber niemals ihre treibende Dynamik. Da funktionieren Szenenwechsel wegen der Tonspur manchmal wie Jump-Scares, weil die Inszenierung die Handlung gnadenlos voranpeitscht. Jede Sequenz ist ein handlungsrelevanter Baustein, und um ein solides Haus zu bauen, sollte man gut mauern können. Wie dem ‚Protagonisten‘ bleibt auch den Menschen im Auditorium kaum Zeit sich zu orientieren. Wo auf der Leinwand die Figuren unvorbereitet zum handeln gezwungen werden, wird im Kinosaal uneingeschränkte Aufmerksamkeit eingefordert. Und es wird auch ziemlich deutlich, dass keine Rücksicht vorherrscht, dass man in 150 Minuten jemanden mit etwas überfordern könnte, was über Jahre als Projekt aus Leidenschaft am Reißbrett entworfen wurde. Und TENET wird einen großen Teil seiner Zuschauer überfordern. Er wird genauso viele Leute finden, welche mit unendlicher Weisheit und beschränktem theoretischem Verständnis, die Unmöglichkeit der gebotenen Hypothese zu beweisen verstehen.
Es wird zweifellos Menschen geben, die sich daran abarbeiten, wie realistisch oder abwegig TENET ist. Oder das man den Wagemut seiner Idee in höchsten Tönen preisen sollte. Darüber hinaus darf man aber nie vergessen, dass TENET in erster Linie eine grandiose Ode an das Kino ist. Van Hoytema gibt an, mehr als 500 Kilometer an Filmmaterial belichtet zu haben, was einem Drehverhältnis von 1:100 entsprechen würde. Damit läge TENET schon nahe am Verhältnis von APOCALYPSE NOW, was allerdings aus Wahnsinn heraus entstanden ist. Als großer Freund und Verfechter von handgefertigten Effekten, sagt Nolan voller Stolz, dass für TENET keine Green-Screen eingesetzt wurde und die Action-Szenen nur In-Camera-Effekte beinhalten, also alles tatsächlich gedreht wurde. Selbst als es um die Visualisierung eines Flugzeugunglücks ging, entschied man sich gegen den Computer.
Das so etwas noch möglich ist, und welchen Unterschied es gerade bei dieser Szene für das unterbewusste Empfinden macht, verdeutlicht der Film auf sehr intensive Weise. Selbst wenn man mit TENET im Ganzen nicht einverstanden ist, kommt man nicht umhin seine überragenden technischen Leistungen anzuerkennen. Es gibt Filme, die es fabelhaft verstehen, mit Bildern oder Tönen erweiterte Ebenen zu schaffen. Hier bilden alle Bereiche eine fein aufeinander abgestimmte Einheit, die in ihrer Intensität gar keine Erweiterung ermöglichen würde. Da nimmt sich der ständig vibrierende Soundtrack von Ludwig Göransson nicht aus, dessen eindringliches Bassvolumen zum unverzichtbaren Begleiter durch die verschiedenen Zeitlinien wird. Göransson beweist sich als perfekter Ersatz von Hans Zimmer, wenngleich mit ganz eigenem Stil. Als langjähriger Begleiter bei Nolans Filmen, wird es Zimmer sicherlich schmerzen, ausgerechnet während der Produktion dieses Films anderweitig verpflichtet gewesen zu sein. Als süßen Nachtisch sollte man die Geschichte um die Entstehung der Musik zu INTERSTELLAR in Erfahrung bringen. Eine der kuriosesten, aber gleichzeitig charmantesten Anekdoten aus dem Filmgeschäft.
Durchaus ist es auch möglich, einfach nur Gefallen an der opulenten Extravaganz zu finden. Vielleicht lässt man sich sogar dazu verleiten, die Schlacht am Ende in unzähligen Wiederholungen aufzuarbeiten, um den korrekten Ablauf von Zeit und Inversion zu analysieren. Es muss nicht immer ein Meisterwerk sein, um Kino wirklich wertschätzen zu können. Kann also TENET die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen. Nein, das kann er nicht, aber ist dies überhaupt relevant? Kino ist magisch. Der Saal, die strahlende Leinwand, die kollektiven Reaktionen, die vom Genre unabhängige Kraft der Suggestion. Christopher Nolan macht jeden seiner Filme für sich, als Reproduktion seiner Empfindungen für diese Leidenschaft. Man kann dieses Erlebnis durchaus ganz anders bewerten, aber dennoch können alle jederzeit teilnehmen, und jeder ist willkommen. Nicht verstehen, einfach fühlen.
Darsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh, Clémency Poésy, Aaron Taylor-Johnson, Michael Caine u.a.
Regie & Drehbuch: Christopher Nolan
Kamera: Hoyte Van Hoytema
Bildschnitt: Jennifer Lame
Musik: Ludwig Göransson
Produktionsdesign: Nathan Crowley
Großbritannien – USA / 2020
150 Minuten
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