THE ROADS NOT TAKEN – Wege des Lebens

Roads Not Taken 1 Copyright UNIVERSAL PICTURESTHE ROADS NOT TAKEN
– Bundesstart 13.08.2020

    Einem breiteren Publikum ist Filmautorin Sally Potter bisher nur mit GINGER & ROSA aufgefallen. Eine Aufmerksamkeit, welche sie sich zu Recht verdiente, mit einem Film, der zu Unrecht viel zu wenig Zuschauer fand. Mit THE ROADS NOT TAKEN wird es ähnlich sein. Elle Fanning hat sich im Unabhängigen Kino einen verdienten Namen gemacht, den sie hier mit einer unglaublichen Intensität unterstreicht, und was muss man noch über Javier Bardem sagen. Aber THE ROADS NOT TAKEN ist bei weitem schwerer zugänglich, wie zum Beispiel Potter vorangegangenes Ensemble-Kunststück THE PARTY. Aber geschlagene 30 Produzenten, einschließlich Co- und Executive Producer, können sich wohl nicht irren, zumindest zeigen sie Vertrauen. Und Sally Potter lässt liefern. Denn tatsächlich ist THE ROADS NOT TAKEN viel mehr Fannings und Bardems Film, als der von Potter.

    Die Demenz bei Leo ist so weit fortgeschritten, das nur noch schwer zu sagen ist, wie weit er seine Umwelt tatsächlich noch wahr nimmt. Wir erleben einen Tag, an dem sich seine Tochter Molly um ihn kümmert. Sie hat noch lange nicht aufgehört, an ihren Vater zu glauben. Sie ist geduldig, lacht und redet normal mit ihm, und flippt total aus, wenn jemand von ihrem Vater in dessen Beisein in der dritten Person redet. Es wird ein langer, nervenaufreibender Tag, und erkenntnisreiche Reise durch New York. Dazwischen sieht man einen gesunden, aber von Selbstzweifeln geplagten Leo. Zwei parallel erzählte Geschichten zeigen entweder reale Rückblicke auf sein Leben, oder von der Demenz vorgeschobene Fantasien. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er diese Ereignisse einordnet. Die Regisseurin gibt einen kleinen, unaufdringlichen Hinweis, was Realität oder Einbildung sein könnte. Den kann man allerdings leicht übersehen, oder im heißen Ritt der Emotionen sogar ignorieren.

    Aber leider trägt THE ROADS NOT TAKEN die Bürde des offensichtlichen Independent-Films, und das ist die Kameraarbeit, hier von Robby Ryan. Es bleibt wahrscheinlich noch lange ein Geheimnis, warum sich Filme mit aller Gewalt optisch aus den normalen Sehgewohnheiten reißen müssen, nur um sich als ‚unabhängig‘ zu beweisen. Denn unmotiviert zwei verschiedene Bilder der selben Einstellungsgröße aneinander zu montieren, und dies des Öfteren, lenkt nur ab und reißt aus dem visuellen Fluss. Nichts davon trägt emotional oder erzählerisch zur Geschichte bei, auch nicht die vehement auf der Schulter geführte Kamera. Irgend ein von sich selbst überzeugter Filmprofessor muss einmal gesagt haben, dass dies Nähe zu den Protagonisten schafft. Nein, tut es überhaupt nicht. Wenn man einer Person gegenübersitzt, dann wackelt man auch nicht mit dem Kopf, um sie möglichst diffus zu sehen. Genauso verhält es sich mit extremen Close-ups, die auf einer vier Meter hohen Leinwand nicht berührend, sondern abschreckend wirken.

Roads Not Taken 2 Copyright UNIVERSAL PICTURES
     Potters Verzicht auf verlockende Klischees ist erstaunlich. Das sie aber bewusst mit diversen Versatzstücken spielt, macht die Odyssee durch diesen Tag extrem spannend. Das zeigt sich besonders im Umgang fremder Menschen mit dem orientierungslosen Leo. Hier beweist sich Javier Bardems unglaubliche Präsenz, der in der realen Zeitebene kaum ein verständliches Wort heraus bringt, und dennoch für den Zuschauer alles vermittelt. So baut die Inszenierung auch eine Brücke zu Molly, die ihren Vater immer begreift, aber daran zerbricht, dass niemand anderes überhaupt versucht eine Verbindung herzustellen. Aber der Film ist nicht einfach nur Abriss eines für die Verhältnisse gewöhnlichen Tages. Nach und nach schält auch Elle Fanning ihren Filmcharakter aus der oberflächlichen Leichtigkeit ihrer emotional extrem aufwühlenden Aufgabe. Dabei kommt es zu einer der wahrscheinlich intensivsten Szenen, mit der Fanning jemals auf der Leinwand beeindrucken konnte.

     Wenn man bei einem Film von Sally Potter auf die Uhr schaut, dann nicht um zu sehen, wann er endlich vorbei ist. Es ist ein Blick mit der Hoffnung, dass noch genügend Zeit bleibt, um die Geschichte hinreichend befriedigend zum Abschluss zu bringen.  Denn sie ist keine der geschwätzigen, sich in ihrer eigenen Kreativität suhlenden Filmemacherin, sondern erzählt für ihre Zuschauer, und keiner von denen soll vorher gestresst seine Gedanken anderweitig abschweifen lassen. Damit spricht sie eben nicht nur ein bereitwilliges Arthouse-Publikum an, sondern durchaus auch den Mainstream-Konsumenten. Bei einem so gehaltvollen Thema ist das nicht sehr einfach, aber durchaus möglich. Sally Potter zeigt was sie zu erzählen hat, und gut ist es. Das kann man nur über sehr wenige Filme aus dieser Richtung sagen. Eine tiefere Auseinandersetzung, gerade bei der von THE ROADS NOT TAKEN behandelten Thematik, sollte ausführlicher im Nachhinein stattfinden.

Roads Not Taken 3 Copyright UNIVERSAL PICTURES

 

Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Branka Katic, Salma Hayek, Laura Linney u.a.
Regie & Drehbuch & Musik: Sally Potter
Kamera: Robbie Ryan
Bildschnitt: Sally Potter, Emilie Orsini, Jason Rayton
Produktionsdesign: Carlos Conti
Großbritannien – Schweden – Polen – Spanien – USA
2020 / 85 Minuten

Bildrechte: UNIVERSAL PICTURES
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