THE KING OF STATEN ISLAND
– Bundesstart 20.08.2020
Es wirkt wie eine kleine Offenbarung. Der KING OF STATEN ISLAND könnte der König eines fehlgeschlagenen Kinosommers werden. In einem nebensächlichen Satz, meint ein Protagonist, man würde nur in Staten Island leben, weil man es sich woanders nicht leisten könne. Eine junge Frau entgegnet empört, dass Staten Island perfekt wäre, und man nirgendwo besser wohnen könnte. Alles lässt sich, und alles sollte man von zwei Seiten betrachten. Nur kommt man bei KING OF STATEN ISLAND immer zur selben Einsicht. Ob als Komödie oder als Drama, großes Arthouse-Kino oder kleines Mainstream-Werk gesehen, er gibt Zeugnis darüber, warum Judd Apatow nicht von seinem Thron gestürzt werden wird. Jede Generation hat ihren zeitgeistigen Komödianten, was dereinst für die Amerikaner Lenny Bruce war, der alle Konventionen von dem was auf der Bühne gesagt werden durfte, über den Haufen sprach. Apatow ist bei weitem kein geschliffener Stand-Up-Comedian, aber einer der das Prinzip verfeinerte, in dem er von anderen das Potential richtig lenken konnte.
Die Geschichte von Scott Carlin ist die Geschichte von Pete Davidson. Davidson ist kein einfacher Stand-Up, meist unangenehm, seine bissigsten Zoten zieht er hauptsächlich aus den Reaktionen eines Publikums, dass oftmals glaubt, er hätte die Grenze weit überschritten. Seine Heimat Staten Island, der unterprivilegierteste der fünf Stadtteile New York Citys, kommt dabei stets am schlechtesten weg. Die verwitwete Mutter, welche unter seiner Dummheit leidet. Der unverblümt viel zu hohe Drogenkonsum. Sein verstorbener Vater ist scheinbar kaum relevant. Dabei ist es genau dieser Punkt, der Judd Apatow am intensivsten angesprochen hat. Im Grunde ist KING OFSTATEN ISLAND eine Biografie von Pete Davidson, nur dass in der filmischen Variante der Tod des Vaters eine zentrale Rolle spielt. Petes Charaktername ist im Gedenken an seinen Vater entsprechend Scott. Blickt man auf Davidsons Vita, ist dieser Verlust auch ausschlaggebend für seine Selbstmordgedanken. Ob überwunden, oder noch vorhanden, so oder so passt es in das Konzept seiner Stand-Up-Routine.
Allgemein würde man Scott Carlin als Loser bezeichnen, dabei hat er ja eigentlich nichts zu verlieren. In seinem weltfremden Kosmos, versteht er einfach das Leben und das Konzept von Empathie überhaupt nicht. Der Tenor in seinem Leben ist, als letzten Ausweg genau die Menschen um Hilfe zu bitten, die er mit seiner Ignoranz verraten und verletzt hat, und aus diesem Grunde auch Hilfe benötigt. Das hört sich zuerst verschnörkelt an, macht aber beim zusehen sehr viel Freude. Inklusive immensen Fremdschämfaktor. Allerdings kommt er mit diesem naiven Selbstverständnis auch überall weiter. Der König von Staten Island ist keine Witzfigur, eher ein tragischer Held. Und nicht nur in einer Szene, verspürt man den gewissen Neid, dass man eigentlich gerne mal so agieren und unbedarft sein möchte wie Scott. Dieser Film ist kein moralisierendes Drama, kein aufwühlendes Psychogram, er ist aber auch keine Komödie. Keine Komödie im klassischen Sinn. Die Lacher sind nicht aus dem Selbstzweck generiert. Oftmals hat der Humor auch gar keine Pointe. Es ist ein steter Fluss von Kichern und Schenkelklopfern, die sich aus dem natürlichen handeln der Charaktere ergeben. Und für diese einnehmende Natürlichkeit sorgt ein unglaublich homogenes Ensemble.
Die drei Autoren haben es konsequent vermieden, aktuelle Bezüge in die Handlung zu bringen. Smartphones sind im Film wohl die modernste Errungenschaft, sind aber ohne jede Relevanz. Der Versuch mit zeitgeistigen Komponenten Gags zu erzeugen, Handlungselemente zu kreieren, oder dramaturgische Akzente zu setzen, wird komplett umgangen. Die Konzentration auf die Figuren ist erstaunlich, und erstaunlich effektiv, und vor allem ausreichend. Davidsons richtiger Vater ist als Feuerwehrmann in den Trümmern des World Trade Centers verstorben, im Film war es ein ganz alltäglicher Feuerwehreinsatz. Es geht nicht um die Besonderheit des Ereignisses, sondern gerade um das Alltägliche. Selbst wenn Davidson jede Szene bestimmt, sind die Charaktere von Tomei, Burr, Powley, oder Buscemi so gleichwertig gezeichnet und geführt, dass man sich einer gewissen Faszination über die nachvollziehbaren und ehrlichen Situationen nicht erwehren kann. Die jeweils daraus resultierenden Ereignisse fügen sich zu einem realistischen Ganzen. Kaum eine Sequenz steht für sich, sondern sie komplettieren sich immer wieder gegenseitig. Die absurdesten Vorkommnisse erhalten dadurch eine natürliche Grundlage. Dem Umstand, dass Scott zum Beispiel Verantwortung für zwei Kinder übernehmen muss, gehen eine Vielzahl von Dialogen und Aktionen voraus. Und auch der Part mit den Kindern forciert verschiedene Ereignisse.
Wenn man von der sogenannten Apatow-Schmiede spricht, hat dies aufgrund des allgemeinen Erfolges und dem ungebrochenen Gespür für das Ungewöhnliche, durchaus seine Berechtigung. Allerdings birgt es auch den leichten Eindruck von kalkulierter Ausbeute. Tatsächlich ist es Judd Apatows Vertrauen in die Authentizität seiner auserkorenen Schützlinge, und der Neigung eines Publikums, die Grenzen derber Geschmacklosigkeit und erkennbarer Realitätsnähe ausloten zu wollen. Nicht dass es diese ‚Raunchy Comedys‘ nicht schon länger geben würde. Doch mit dem Ehrgeiz und gesunden Selbstvertrauen von Judd Apatow, wurden diese unvermittelt salonfähig. Eben eine Frage des Zeitgeist. Auch weil Themen die Filme bestimmten, die man sonst nur hinter vorgehaltener Hand erzählt. Wie die vierzigjährige, männliche Jungfrau, oder aus dem eigenen Anspruch folgend, der aberwitzig, unflätige BRAUTALARM. Auf einmal, auf der Welle des vulgären Humors, wurde noch einmal das Genre umgekrempelt. Puristen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, auf einmal kamen da unflätige, versaut fluchende Weiber. Direkt vom Stand-Up, tobten auf einmal Größen wie Amy Schumer über die Leinwand und Lena Dunham auf dem Bildschirm.
Judd Apatow hat kein Interesse an künstlichen Allerweltstypen, die am Ende über sich hinauswachsen. Und genau das ist THE STATEN ISLAND. Typen die man sehen will, vielleicht sogar beim Scheitern zusehen, aber sie müssen echt sein, man muss sie fühlen und bei ihnen bleiben wollen. Wo man sich auch über den kleinsten charakterlichen Fortschritt freuen kann. Jemand wie Scott Carlin. Ein wirklicher Held in einem Kinosommer, der eigentlich keine großen Filme hervor bringt. KING OF STATEN ISLAND wird dadurch nur noch größer. Absolut verdient.
Darsteller: Pete Davidson, Bel Powley, Marisa Tomei, Bill Burr, Maude Apatow, Steve Buscemi, Pamela Adlon, Jimmy Tatro u.a.
Regie: Judd Apatow
Drehbuch: Judd Apatow, Pete Davidson, Dave Sirus
Kamera: Robert Elswit
Bildschnitt: Jay Cassidy, William Kerr, Brian Scott Olds
Musik: Michael Andrews
Produktionsdesign: Kevin Thompson
USA / 2020
137 Minuten