Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Kino, in dem Sie den Film nicht nur hören und vielleicht sogar in stereoskopischen Bildern sehen, sondern auch noch spüren. Findige Kinobetreiber nennen dies 4-D. Natürlich ist das eine dumme, weil unlogische Bezeichnung. Aber wenn nicht nur der Ton dröhnt und das Bild explodiert, sondern der Körper simultan zum Bild geschüttelt wird, dann sitzen Sie in einem Simulationskino.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Kino, in dem Sie den Film nicht nur hören und sehen, sondern das Monster aus dem Film auch noch spüren. Und Zuschauer im Auditorium kreischen erschreckt und hysterisch, denn der Parasit auf der Leinwand kann auch nur durch lauthalses Schreien getötet werden. Dann sitzen Sie in einem Film von William Castle.
Chronist und Doku-Regisseur Jeffrey Schwartz beschreibt William Castle als unsicheren Typen, der selbst den eigenen Ruf als Über-Person nährte, um seine Furcht vor Versagen nicht bekannt werden zu lassen. Laut Schwartz war es auch die Furcht vor einem Versagen der Filme an den Kassen, weswegen sich Castle bemüssigt sah, sich immer wieder neue Werbe-Gags einfallen zu lassen.
Ob der 1914 in New York geborene William Schloss (!) wirklich zu wenig Selbstvertrauen hatte, wie Schwartz in der Dokumentation SPINE TINGLER – THE WILLIAM CASTLE STORY behauptet, sei dahingestellt. Zumindest wurde er zu einem ausgefuchsten Produzenten, nachdem er in jungen Jahren nach Hollywood zog, mit knapp dreißig seine erste Regiearbeit übernahm, sogar einmal Orson Welles assistierte und Robert Mitchum groß rausbrachte.
Mit seinem ersten selbstproduzierten Film MACABRE, bei dem er gleichzeitig Regie führte, fing es 1959 an. Am Kinoeingang wurden Lebensversicherungspolicen über 1.000 Dollar an die Zuschauer verteilt, für den Fall, man würde sich zu Tode erschrecken. Bei größeren Kinos standen für den Notfall vor dem Eingang dekorativ ein Krankenwagen geparkt und eine Krankenschwester im Foyer bereit. Die Versicherungsgesellschaft Lloyds of London musste keinem Zuschauer von MACABRE etwas ausbezahlen, aber Castles Stunt sprach sich sehr schnell herum und machte neugierig. Der eher schlechte Film machte Kasse.
Den nächsten Kinofilm HOUSE ON HAUNTED HILL – HAUS AUF DEM GEISTERHÜGEL dreht Castle in „Emergo“. Ein Filmformat, das es gar nicht gab, aber in Zeitungsanzeigen groß angekündigt wurde. Während einer bestimmten Stelle im Film, in der ein Skelett den Protagonisten jagt, öffnete sich über der Leinwand eine Kiste, von der aus ein selbstleuchtendes Skelett durch den Saal über die Köpfe der Zuschauer hinweggezogen wurde. Auch mit diesem stark beworbenen Gimmick hatte Castle Erfolg, allerdings anders als gedacht. Besonders jüngeres Publikum zog es ins Kino, als sich die Sache mit dem Skelett herumsprach. Anstatt sich zu gruseln, bemühten sich die Racker, das Skelett mit allerlei Mitgebrachtem zu bewerfen. Der Einsatz von Steinschleudern war nicht selten. Die Kinobesitzer verzichteten nach und nach auf „Emergo“ und zeigten den Film lediglich in seiner gefilmten Zweidimensionalität.
Mit THE TINGLER – SCHREI, WENN DER TINGLER KOMMT folgte Castles aufwendigster Streich, gefilmt in „Percepto“. Ein Parasit ernährt sich an der Wirbelsäule seines Opfers von Angst, nur durch lautes Schreien kann er getötet werden. Im Film entwischt dieser Tingler genannte Parasit in ein Kino, dann verschwindet auf der Leinwand das Bild und die Silhouette des Tinglers schiebt sich darüber. Man hört Vincent Prices Stimme rufen: „Meine Damen und Herren, geraten Sie nicht in Panik! Aber schreien Sie, schreien Sie um Ihr Leben. Der Tingler ist im Zuschauerraum.“ An einigen Sitzen im Zuschauerraum waren Buzzer angebracht, die nicht nur sonor summten, sondern die Sitzfläche des Stuhls in Vibration versetzten. Die Buzzer wurden aktiviert, als auch im Kino auf der Leinwand eine Panik ausbricht. Der Effekt erreichte die gewünschte Wirkung mit tatsächlich kreischenden Zuschauern. Für Castle war das nicht genug. Um „Percepto“ noch zu unterstützen, gab es zusätzlich bezahlte Statisten im Publikumsraum, die laut schrien oder sogar in Ohnmacht fielen. Kopien für die Autokinos wurden so synchronisiert, dass die drohende Stimme vor dem Tingler eben im Autokino warnte. Der Trick mit den Vibrationen war dort technisch allerdings nicht durchführbar.
1960 war Castles nächster Film 13 GHOSTS – DAS UNHEIMLICHE ERBE an der Reihe. In „Illusion-O“ produziert. Der geneigte Zuschauer erhielt mit seinem Eintrittsticket auch den Ghost-Viewer. Wer Angst hatte, die Geister auf der Leinwand zu sehen, musste mit dem Ghost-Viewer durch die blaue Folie sehen und die Geister blieben unsichtbar. Der Blick durch die rote Folie verstärkte die Geistererscheinungen noch. Bei dem in schwarzweiß gedrehten 13 GHOSTS wurden die Geister nachträglich blau eingefärbt in den Film einkopiert und so mit der blauen Folie unsichtbar. 13 GHOSTS blieb, trotz des überzeugenden Ergebnisses, der einzige Film in „Illusion-O“.
Mit HOMICIDAL – MÖRDERISCH schien William Castle 1961 den Bogen zu überspannen. Kurz vor dem Höhepunkt des Films gab es die „Angst-Pause“ von 45 Sekunden, die von einer Uhr im Film angezeigt wurde. Castles eigene Stimme verkündete dazu, dass jeder Zuschauer sein Geld zurückbekommen würde, der sich davor fürchtete, die Auflösung des Films zu erfahren. Diese Zuschauer mussten dann in die „Chicken-Corner“, ein gelber Karton-Verschlag innerhalb des Saals, von dem aus man keinen Blick auf die Leinwand hatte. Die restlichen Zuschauer reagierten natürlich entsprechend und riefen dem Angst eingestehenden Flüchtling „chicken, chicken“ hinterher. Zudem durften Leute aus der „Chicken-Corner“ nur als letzte den Kinosaal verlassen, damit die Tapferen beim Hinausgehen die Feiglinge noch einmal verspotten konnten. Der Zulauf für die „Chicken-Corner“ reduzierte sich sehr schnell auf Null.
„Der einzige Film mit der Wahl zur Bestrafung“ war Williams Castles DER UNHEIMLICHE MR. SARDONICUS. Jeder Zuschauer bekam mit dem Eintritt eine Karte mit einem im Dunklen leuchtenden Daumen. Kurz vor der Auflösung des Films wurde dieser gestoppt, das Publikum konnte mit dem Daumen über das Schicksal MR. SARDONICUS‘ abstimmen. Es soll keine Vorführung gegeben haben, bei der der unheimliche Sardonicus mit dem Leben davongekommen ist. Verschiedene Quellen meinen, dass William Castle darüber verärgert war, dass das alternative Ende nie gezeigt wurde. Andere Berichte bezweifeln, dass die Kinos tatsächlich darauf vorbereitet waren, das Überleben von Sardonicus zu zeigen. Hingegen ist sicher, dass zu dieser Zeit die Möglichkeit zweier verschiedener Enden eines Films das filmhistorisch interessanteste Gimmick von Castle war.
Bei ZOTZ! ging es um eine goldene, magische Münze. Bei der Erstaufführung im Juli 1962 wurden an die Zuschauer vergoldete Plastikmünzen ausgegeben, die keinerlei weiteren Nutzen hatten. Für 13 FRIGHTENED GIRLS wurde eine in der Presse breitgetretene Casting-Kampagne gestartet, bei der weltweit 13 Schauspielerinnen aus 13 Ländern gesucht wurden. Die Originalität und der Aufwand bei William Castles Filmen nahmen merklich ab. Das war auch darauf zurückzuführen, dass Castles Buchhalter dem Produzenten und Regisseur in Personalunion nahelegten, dass die Gimmicks nicht gut für den Finanzhaushalt seien. Zu STRAIGHT-JACKET – DIE ZWANGSJACKE ließ Castle 1964 dann erst einmal auch nur Hauptdarstellerin Joan Crawford auf Promotion-Tour gehen. Auf den letzten Drücker wurden dann doch noch Karton-Faksimile der im Film verwendeten Axt angefertigt, die man an die Zuschauer verteilte.
So langsam endete die kurze, aber lustige Ära der William-Castle-Gimmicks. Mit I SAW WHAT YOU DID – ES GESCHAH UM 8 UHR 30 sollte es noch mal ein bisschen Aufwand geben, als man in den letzten Sitzreihen der Kino Sitzgurte installieren wollte. Die von Angst und Horror gepeinigten Zuschauer sollten nicht aus dem Sitz fallen. William Castle kündigte das höchstpersönlich in den Trailern zu I SAW WHAT YOU DID an. Ob nur einige Kinos tatsächlich mit Sitzgurten ausgestattet waren oder am Ende überhaupt keines, darüber zeigen sich diverse Quellen auch uneins.
Ein allerletztes Aufbäumen von Castles Affinität zu seinen selbst erdachten Gimmicks zeigte sich bei seinem letzten Film BUG – FEUERKÄFER, den er 1975 produzierte. Nach einem Erdbeben krabbeln aus einer Erdspalte feuerspeiende Käfer. Nach Castles Vorstellung sollten an verschiedenen Sitzen im Zuschauerraum ferngesteuerte, bewegliche Bürsten angebracht werden, die bei Käfer-Bewegungen auf der Leinwand die Beine des Zuschauers entlangstreiften. Das Unternehmen wurde schon im Ansatz des Gedankens im Keim erstickt. Stattdessen schloss man werbewirksam und presseweit publiziert eine Lebensversicherung von über einer Million Dollar auf den Star des Films ab: Hercules, die Kakerlake.
Mit nur 63 Jahren verstarb William Castle sehr überraschend an einem Herzinfarkt. Man sagt ihm nach, dass sein perfektestes und wirkungsvollstes Gimmick ROSEMARYS BABY als Film selbst gewesen sein soll. Der Produzent gab die Regiearbeit an den jungen Roman Polanski ab, und dieser inszenierte einen unheimlich beklemmenden Horrorfilm in einem Setting von klarer Realität, mit aus dem wirklichen Leben gegriffenen Charakteren. Schockierender hätte man die Geburt des Antichristen nicht für den Zuschauer aufbereiten können.