In Indien leben 11 Millionen Kinder auf der Straße. Und wie wenig das eine Kultur interessieren kann, schafft LION in seinen ersten 30 Minuten sehr eindrucksvoll, aber auch bedrückend zu zeigen. In Indien werden aber auch jährlich 80.000 Kinder als vermisst gemeldet. Was mit ihnen alles geschehen könnte, scheut sich der Film auch nicht anzudeuten. Regisseur Garth Davies muss dabei nicht explizit werden, weil dafür auch nicht viel Vorstellungskraft gehört. Dem fünfjährigen Saroo bleibt so manches Schicksal erspart, aber mit seinen Augen lernt der Zuschauer eine Welt kennen, die so fremd und auch bizarr anmutet, dass es schmerzt. Selbstverständlich gibt es Scheußlichkeiten und Gleichgültigkeit gegenüber Kindern auch bei uns, in der vielgepriesenen westlichen Welt. Aber die Natürlichkeit in welcher LION dies aufzeigt, hat etwas erschreckendes.
Mit fünf Jahren wird Saroo aus Versehen von seiner Familie getrennt Aber Saroo hat sehr viel mehr Glück im Unglück. Doch ergeben sich erst Jahrzehnte später die Möglichkeiten, seine Familie eventuell wieder sehen zu können. Es versteht sich fast schon als selbstverständlich, dass diese Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, die Saroo Brierley selbst als Autobiografie verfasst hat. Die faktischen Abweichungen scheinen sich dabei in Grenzen zu halten, möchte man verschiedenen Berichten Glauben schenken. Wobei es bekanntlich bei filmischen Adaptionen niemals ohne Veränderung für dramatische Zwecke funktionieren kann.
Das man Volker Bertelmanns und Dustin O’Hallorans Soundtrack kaum wahr nimmt, kann Fluch und Segen zugleich sein, und ist schwer zu beurteilen. Auffallend ist jedenfalls, dass sie den Film unterstützen, aber nicht mit den Gefühlen des Zuschauers jonglieren. Also, vielleicht doch eher Segen. Hingegen ist Greig Frasers Kameraarbeit etwas unstet, die zwischen Schulterkamera, elegischen Schwenks, harten Kontrasten und weichen Farben keinen eigenen Charakter zeigt. Aber auch das tut dem Film keinen Abbruch.
Woran LION krankt, ist seine bewusst gewählte epische Länge. Garth Davis hätte als Regisseur die Zügel ruhig straffer in die Hände nehmen können. Es ist nicht so, dass die Geschichte mit vielen Überraschungen für den Zuschauer aufwarten würde. So entfaltet sich die Handlung viel zu langsam, und auch etwas zäh. Letztendlich weiß das Publikum, was geschehen wird. Bei aller Länge, bleibt LION ein gelungener Film, der sehr emotional zu erzählen versteht, ohne diese Emotionen künstlich verstärken zu wollen. Eine gewisse Bodenhaftung bleibt erhalten. Und auch das ist in dieser Art von Film eher ungewöhnlich.
Darsteller: Sunny Pawar, Dev Patel, Nicole Kidman, David Wenham, Rooney Mara, Priyanka Bose, Abhishek Bharta u.a.
Regie: Garth Davis
Drehbuch: Luke Davies, nach der Biografie von Saroo Brierley
Kamera: Greig Fraser
Bildschnitt: Alexandre de Franceschi
Musik: Volker Bertelman, Dustin O’Halloran
Produktionsdesign: Chris Kennedy
Australien – USA – UK / 2017
118 Minuten