Die Besprechung basiert auf der
amerikanischen BluRay-Fassung
Was vermisst ein Mensch, der in einem 16 Quadratmeter kleinen Raum geboren wurde, und dort aufwuchs, ohne das Wissen von einer Außenwelt? Wie entwickelt sich ein Mensch, der allein Kontakt mit seiner Mutter hat? Joy lebt seit sieben Jahren im Raum. Jack ist fünf Jahre alt. Kommt Old Nick in den Raum, muss sich Jack im Schrank verstecken und schlafend stellen. Wie entwickelt sich ein Mensch, der 16 Quadratmeter Raum als die einzig existierende Welt begreift? Zuletzt war Regisseur Lenny Abrahamson mit FRANK im Arthouse-Kino begeistert aufgenommen worden. FRANK ist eine schräg inszenierte Mischung aus Drama und Komödie, mit äußerst skurrilen Charakteren, und viel Musik. Abrahamson wurde auf den Film SHORT TERM 12 aufmerksam gemacht, als die weibliche Hauptrolle für ROOM bereits zwischen Rooney Mara, Emma Watson und Shailene Woodley ausgehandelt wurde. In SHORT TERM 12 spielte Brie Larson die Hauptrolle.
Interessant ist an der Entstehungsgeschichte von ROOM, dass Autorin Emma Donoghue zuerst das Drehbuch geschrieben hat. Erst später folgte der eigentliche Roman. So mussten auch keine Abstriche, und dramaturgischen Änderungen für die Verfilmung vorgenommen werden, und die Geschichte blieb in ihrer Gänze erhalten. Außer das man Joan Allens Rolle etwas erweiterte, als ihre Beteiligung feststand, aber auch das kann man rückwirkend als geglückte Entscheidung gut heißen. Aber neben den fantastischen Schauspielern, ist der eigentlich Künstler Kameramann Danny Cohen, der den kleinen Raum immer wieder auf eine Größe zu erweitern versteht, wie ihn Jack wahrnimmt. Im Wechsel schrumpft er aber auch auf die klaustrophobischen Empfindungen von Joy. Der Raum wird in starken, kontrastreichen Farben gezeigt, was sich später umkehren wird. Die Außenwelt ist mittlerweile zu einer fremden Welt geworden. Kalt, unsicher, unbekannt. Aber auch hier erweist sich Danny Cohen mit seinem Bildern als für die Erzählung unterstützende Ebene.
ROOM lässt den Zuschauer spüren, wie Abrahamson und Autorin Donoghue Hand in Hand in der Inszenierung gingen. Immer wieder baut der Film Situationen auf, welche förmlich nach standardisierten Klischee rufen. Doch diese werden stets gebrochen. Zu einem gewissen Grad spielt der Film immer und immer wieder mit der Erwartungshaltung des Publikums, übergeht diese allerdings gekonnt. ROOM umgeht alle Möglichkeiten von Effekthascherei, und verweigert sich jeder Art von spekulativer Sensationen. Und dennoch ist der Film durch und durch spannend, gerade weil er immer den gewohnten Standard umgeht. Schließlich geht es um Jack, und die Handlung hält stets an seinen Erfahrungen und Erlebnissen fest, auch wenn es das Schicksal mit anderen Charakteren einmal nicht so gut meint. Der Fokus ist immer auf ihn gerichtet. Wie entwickelt sich ein Mensch, der 16 Quadratmeter Raum als die einzig existierende Welt begriffen hat?
ROOM wird es schwer haben, sich einem breiteren Publikum zu erschließen. Dazu ist er zu unaufgeregt, zu ehrlich, aber auch zu realistisch. Ist Kino eigentlich diese kleine Welt, wo manchmal schreckliche Dinge zuerst schrecklicher werden, um mit dem Mut der Figuren mit Handstreich hinfort gewischt werden. Dieser Film hat genau den verdrehten Mut, sich nicht nach Erwartungshaltungen zu richten, sondern sich seiner selbst gewählten Prämisse konsequent zu unterwerfen. Gerade die erste Hälfte wird zu einer Herausforderung und gleichzeitig Bewährungsprobe, denn das Publikum muss das Leben im Raum erst einmal richtig verstehen, dies auch verinnerlichen. Das erfordert durchaus auch einmal Nerven, wird an manchen Stellen zu einer quälenden Zerreisprobe zwischen einnehmenden Charakterkino und dem dringlichen Wunsch nach Fortschritt in der Handlung. Aber da konnten die Macher keine Zugeständnisse machen, weil der Film und seine Grundidee sonst überhaupt nicht diese Intensität und Glaubwürdigkeit erreicht hätten.
Dass dies nur mit wirklich guten Darstellern möglich ist, um glaubhaft zu funktionieren, ist selbstverständlich. Aber das Spiel von Brie Larson und Jacob Tremblay ist nicht einfach nur glaubhaft, es ist perfekt und harmonisch. Sie, die manchmal an seiner kindlichen Naivität zu verzweifeln droht, und er, der die Wirklichkeit überhaupt nicht begreifen kann. Aber sie brauchen sich. Larson und Tremblay spielen nicht, sondern sind eine Familie. Ob Rooney Mara, Emma Watson oder Shailene Woodley diese Qualitäten in ROOM eingebracht hätten, dass wird spätestens nach Brie Larson sehr fragwürdig. Und Jacob Tremblay hinterlässt den Eindruck, von niemanden ersetzt werden zu können.
Dennoch ist ROOM kein einfacher Film, der ohne weiteres einfach so einmal gesehen werden will. Man muss sich als Zuschauer damit beschäftigen, man muss sich richtig darauf einlassen. Und wer das kann, der erlebt ein wunderbares Stück Kino, und eine ungewöhnliche Rechtfertigung dafür, dass Kino immer wieder einmal zu etwas besonderem werden kann.
Darsteller: Brie Larson, Jacob Tremblay, Sean Bridgers, Joan Allen, William H. Macy u.a.
Regie: Lenny Abrahamson
Drehbuch & Roman: Emma Donoghue
Kamera: Danny Cohen
Bildschnitt: Nathan Nugent
Musik: Stephen Rennicks
Produktionsdesign: Ethan Tobman
Irland – Kanada / 2015
118 Minuten