SING SING

Sing Sing - c 2023 DIVINE FILM LLC– Bundesstart 27.02.2025
– Release 02.08.2024 (US)

Preview, 25.02., Babylon, Fürth

Oscar 25Wie kann man frei sein, wenn einem die Freiheit verwehrt bleibt? Es ist eine banale Frage, welcher der Regisseur Greg Kwedar auf sehr spannende Weise nachgeht. Und plötzlich ist die Frage gar nicht mehr so banal, sondern entfaltet eine sehr anspruchsvolle Geschichte. ‚Rehabilitation Through the Arts‘, im Film stets prominent mit RTA abgekürzt, ist seit 1996 in den Vereinigten Staaten ein Gefängnisprogramm für Inhaftierte. Mit diversen Kunstrichtungen soll eine mögliche Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglicht, aber auch Kreativität und sozialer Umgang gefördert werden. Allein die Entwicklung von SING SING ist schon ein Kunstprojekt für sich. Zuerst war der Esquire Artikel „The Sing Sing Follies“ von John H. Richardson. Daraus entwickelten Clint Bently und Greg Kwedar ihre Geschichte, für die sie Clarence Maclin und John ‚Divine G‘ Whitfield mit einbezogen. Zwei ehemalige Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Sing Sing, und Hauptakteure von Richardsons Artikel. Bently und Kwedar verfassten daraus das Drehbuch, wobei Kwedar sich entschloss, auch die Regie zu übernehmen. Sahnehäubchen der Entwicklung, dass sich Clarence Maclin auch selbst spielen wollte.

Ziemlich früh stand fest, dass Colman Domingo die Rolle von John ‚Divine G‘ Whitfield übernehmen wird. Whitfield ist so etwas wie der Star der RTA-Gruppe. Er kennt seinen Shakespeare, er weiß seine Mitspieler zu inspirieren, und er kann inszenieren. Das Laientheater des RTA ist Whitfields Illusion von Freiheit, die beim Proben und Spielen zu einer mentalen Realität wird. Wie für die meisten, die sich erfolgreich dem Programm verschrieben haben. Nur drei der Darsteller sind professionelle Schauspieler ohne kriminellen Hintergrund. Das restliche Ensemble setzt sich aus ehemaligen Insassen zusammen, die während ihrer Haft am RTA-Programm beteiligt waren.

Einer dieser Darsteller ist Clarence Maclin, der Co-Author, welcher sich selbst spielt, und im Film neu zur Theatergruppe kommt. Während Whitfield als nächstes Stück bereits erneut einen Shakespeare im Kopf hat, schlägt der Neue eine Komödie vor. Obwohl er der heimliche Kopf der Produktionen ist, kann sich Whitfield nicht gegen den Vorschlag sperren, weil das ganze Programm nur als Gruppenbestrebung funktioniert. Während sich die anderen von Maclins Vorschlag begeistert zeigen, gerät Whitfields in sich geschlossener Kosmos der geistigen Flucht aus dem Gefängnisalltag ins Wanken. Obwohl sich schnell zeigt, dass Maclin gar nicht ernsthaft am Stück interessiert ist.

Kwedar inszeniert die Atmosphäre zwischen Maclin und Whitfield mit einer ungewöhnlichen Ruhe und einnehmender Sensibilität. Hier sind zwei Männer, ganz sicher stellvertretend für so viele Schicksale im Strafvollzug, die lernen müssen sich anzunähern und zu respektieren. Der Neue begreift noch nicht die belebende Dynamik in so einer Gruppe, und dem Alten widerstrebt Veränderung und resultierende Konflikte. Aber SING SING braucht dazu keine scharfen Dialog oder drohende Gebärden.

Sing Sing 2 - c 2023 DIVINE FILM LLC

Greg Kwedar ist mit dieser Geschichte und seiner Inszenierung ganz sicher einer der ungewöhnlichsten Gefängnisfilme gelungen. Eigentlich stellt der Film alles auf den Kopf, was bisher in diesem Sub-Genre für Standard gehalten wurde. Es gibt keine internen Gangs, keine sadistischen Wärter, keine rebellierenden Gefangenen, keine Momente von Gefahr. Aber spannend ist die Atmosphäre durch und durch. Wenn sich die Insassen bei Alarm blitzschnell und selbstverständlich auf den Boden werfen, oder deren stoische Ruhe, bei der üblichen Durchsuchung der Zelle, bei denen nichts unberührt bleibt. Die Atmosphäre ist spannend, weil sie dennoch unaufgeregt ist, und dadurch greifbar wird. SING SING zeigt einen Gefängnisalltag, wie man ihn wahrscheinlich seit Frankenheimers DER GEFANGENE VON ALCATRAZ nicht mehr gesehen hat.

Einer der größten Einflüsse auf die Nahbarkeit und tiefe Menschlichkeit, die der Film ausstrahlt, ist Pat Scolas Kamera. Gedreht wurde auf 16mm, was schon von der Bildqualität her einem starken, dokumentarischen Eindruck macht. Und Scola hat die Geschichte auch wie eine Dokumentation gefilmt, mit handgeführter Kamera, die immer am beobachtet, aber nie erzählend eingreift. Manchmal sind Reaktionen der Darsteller nur flüchtig, manchmal verweilt die Optik auch etwas zu lang in der Einstellung. Mit Parker Laramie hat Kwedar neben dem perfekten Bildgestalter, auch den idealen Cutter gefunden, der den Anschein und die Intensität von Realität perfektioniert.

Und im weitesten Sinne ist SING SING durchaus auch eine Dokumentation. Vielleicht wurde im dramaturgischen Sinne die Realität etwas gebeugt, aber Figuren, und ihre Darsteller, das Programm, die Drehorte, das gezeigte Bühnenstück, das ist alles echt, ist wirklich passiert. Und von diesem großartigen Ensembles wird man zuerst sanft an den Händen genommen, und in eine Welt begleitet, in der ganz schnell die Vergangenheit dieser Männer vergessen wird. Und dann lassen diese Hände zum Glück auch nicht mehr los. Wie bereits geschrieben, sind nur drei von ihnen professionelle Schauspieler, wobei ein Unterschied nicht auszumachen ist. Mit der winzigen Ausnahme, hier Colman Domingos bisher berührendsten Darbietung erleben zu dürfen. Greg Kwedar stellt nie die Frage nach Schuld oder Unschuld. Es geht nur um die Möglichkeit Mensch zu sein, Mensch bleiben zu dürfen, oder dorthin zurückzufinden. Einfach nur mit Theater frei zu sein, wenn einem die Freiheit verwehrt bleibt.

Sing Sing 1 - c 2023 DIVINE FILM LLC


Darsteller: Colman Domingo, Clarence Maclin, Paul Raci, Sean San José, David Giraudy, Patrick Griffin, Mosi Eagle u.a.

Regie: Greg Kwedar
Drehbuch: Greg Kwedar, Clint Bentley
mit Unterstützung von Clarence Maclin & John Divine G Whitfield
Kamera: Pat Scola
Bildschnitt: Parker Laramie
Musik: Bryce Dessner
Produktionsdesign: Ruta Kiskyte
USA / 2023
107 Minuten

Bildrechte: DIVINE FILM LLC
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