– Release 09.02.2024 DISNEY+
Laura Chinn ist Schriftstellerin, Schauspielerin und Autorin für TV-Serien. SUNCOAST ist ihr Debüt als Filmemacherin in Personalunion von Regie und Drehbuch. Es ist wie oftmals bei Erstlingswerken, eine autobiografisch gefärbte Geschichte. Eine tragikomische Coming of Age-Erzählung, um die sechzehnjährige Doris, die sich zusammen mit der Mutter um den todkranken Bruder kümmern muss. Max ist bereits blind und paralysiert. Sein körperlicher Zustand ist stark degenerativ, weshalb er bald sterben wird. Dafür sind Doris und ihre Mutter in die Nähe des Hospiz Suncoast gezogen, wo Max bald sterben wird. Die hyperprotektive und extrem überspannte Mutter Kristine ist davon überzeugt, dass ihr Sohn seine Umwelt noch im vollen Umfang wahrnimmt. Aus diesem Grund muss auch Schwester Doris jede mögliche Minute mit ihm verbringen. Doch Doris will einfach nur ein normales Teenager-Leben führen, Erwachsenwerden, und Spaß mit ihren neuen Klassenkameradinnen haben, welche sie sofort aufgenommen haben.
Laura Chinn kennt ganz offensichtlich das Regelwerk für High School Stories gut, und versteht dramaturgische Klischees raffiniert gegen den Strich zu bürsten. Die Königinnen im High School Bienenstock nehmen Doris sofort unter ihre Fittiche. Immer wieder baut die Regisseurin Situationen auf, bei denen man sicher wäre, der neue Freundeskreis würden sich doch nur als idiotische Blender herausstellen. Doch sie halten zu ihr, selbst nach den für Teenager eigentlich unverzeihlichsten Fehlverhalten. Das ist tatsächlich neu und erfreulich. Doris lernt auch den Witwer Paul kennen, der mit vielen anderen vor dem Hospiz demonstriert. Wir erfahren aber nie für welche Seite Paul demonstriert.
Es ist nämlich die Zeit und das Hospiz, in dem auch Wachkomapatientin Terry Shiavo liegt. Das ist keine künstlerische Freiheit von Chinn, sondern autobiografischer Fakt, dass ihr Bruder zur selben Zeit in Suncoast untergebracht war. Das Schicksal von Terry Shiavo löste Mitte der 1990er heftige öffentliche Debatten aus, als ihr Mann lebenserhaltende Maßnahmen abstellen lassen wollte, ihre Eltern aber gerichtlich immer wieder dagegen prozessierten. Dieses ständige an und aus der Maschinen zog sich über 15 Jahre, bis Terry endlich Frieden fand. Sie wurde zur Ikone dieser fragwürdigen Kontroverse, in der uns allerdings die ethischen Ansichten des Demonstranten Paul verborgen bleiben.
Irgendwo dazwischen brennt Laura Linney als Mutter Kristine ein Feuerwerk gefühlsüberladener Aufregung erster Güte ab. Auch wenn die Regisseurin in der Zeichnung von Kristines aufwühlender Hysterie maßlos übertreibt, hat sie in Laura Linney wenigsten die richtige Mitstreiterin gefunden. Die stets furchtlose Linney steckt nie vor streitbaren und undankbaren Rollen zurück. Wer würde je TRUMAN SHOW oder OZARK vergessen. Mit Kristine hat ihr aber Chinn wohl eine ihrer unausstehlichsten Figuren aufinszeniert, zu der man wegen ihrer Radikalität sehr schwer Zugang findet. Sie ist zweifelsfrei real, aber keine für die Dramaturgie notwendige Identifikationsfigur.
Woody Harrelson hingegen bereitet als Paul wieder viel Freude, wenn er mit seinen bewährten Manierismen von lässig schelmischen Besserwissereien versucht Doris als Gefährtin im Geiste, intellektuell zu fordern. Nur tut er es nicht wirklich. Laura Chinn gibt Paul keinen Stoff dafür. Sie gibt keiner ihrer Figuren die Möglichkeit unbequem oder fordernd zu werden, oder vielleicht zu provozieren. Ihre Geschichte ist allein dafür zurecht geschnitten, Nico Parker als verunsicherter und unerfahrener Doris eine recht breite Bühne zu liefern. Und Parker nutzt diese Bühne geradezu überwältigend, mit engelsgleichem Charme und naiver Sehnsucht nach einem bisschen Normalität.
Am Ende ist da eine ansprechende, gerne mal von den Klischees abweichende Coming of Age-Geschichte, die durch ihre sympathischen Figuren zum Leben erweckt wird, und durch ihr gut austariertes Tempo funktioniert. Mit Ausnahme von Linneys Kristine. Die Auflösung ist entsprechend weichgespült, und geht dann ganz ihm Sinne des Grundbedürfnisses nach Harmonie, doch zu einem gefälligen Ende über. Die Regie-Debütantin vergisst darüber auch noch ihre wenigen Stärken die sie zuvor aufgebaut hat. Weder der ungewöhnliche Freundeskreis von Doris, noch die Beziehung zu Paul werden am Ende relevant, oder spielen in Doris‘ erweiterten Erfahrungsschatz hinein.
Der Anfang des Lebens und der nahe stehende Tod liegen in Doris Leben sehr nahe zusammen, was den Reiz der Geschichte eigentlich ausmacht. Doch nichts liegt Drehbuch und Regie ferner, als sich mit den ethischen und moralischen Fragen des Sterbens zu befassen. Obwohl die Filmemacherin selbst ihre Geschichte darin verankert. Aber der Film, und mit ihm alle Figuren, behalten zum Thema eine verwirrende Neutralität. Selbst der überdrehten Kristine geht es letztendlich nur darum, ihren eigenen Wahnsinn in den Griff zu bekommen, um so ihre eigenes Gewissen beruhigen zu können. So wird SUNCOAST zu einem unterhaltsamen Film, mit einem sehr überzeugenden und sehenswerten Ensemble, der aber am Ende trotz seiner Möglichkeiten belanglos ist.
2022 hat Laura Chinn ihren autobiografischen Roman ‚Acne‘ veröffentlicht. In dem beschreibt sie noch ungeschönt ihre trotzigen Eskapaden als Teenager, und ihr wahres Verhältnis zum Zustand ihres sterbenden Bruders. Die heute 38-jährige Chinn wollte gar kein normaler Teenager sein, sondern anecken nur des Ärgers wegen. Das wäre wirklich ein explosiver Stoff mit hinreichend Kontroversen und Diskussionspotential geworden. Und er wäre mit Laura Linney und Woody Harrelson hervorragend besetzt gewesen.
Darsteller: Nico Parker, Laura Linney, Woody Harrelson, Daniella Taylor, Ella Anderson, Amarr, Ariel Martin u.a.
Regie & Drehbuch: Laura Chinn
Kamera: Bruce Francis Cole
Bildschnitt: Sara Shaw
Musik: Este Haim, Christopher Stracey
Produktionsdesign: Valeria De Felice
USA / 2024
109 Minuten