RED ROOMS – Zeugin des Bösen

Red Rooms - Coypright 24 BILDER FILMAGENTURLES CHAMBRES ROUGES
– Bundesstart 07.11.2024
– Release 11.08.2023 (Québec)

Aus unerfindlichen Gründen sind es vornehmlich Frauen, die eine unerklärliche Faszination für männliche Straftäter entwickeln. Und beinahe wie besessen, verbringen sie jeden möglichen Tag im Gerichtssaal, um dem vermeintlichen Täter auch nahe zu sein. Dieser Umstand ist natürlich auch darauf zurückzuführen, dass eben der größte Anteil von Mördern und Gewaltverbrechern einfach Männer sind. Der Frankokanadier Pascal Plante nennt diese Frauen ‚Serienkiller Groupies‘, aber nicht unbedingt abwertend. Seine eigene Faszination für das Phänomen ließ bei dem Autorenfilmer die Idee von Kelly-Anne heranreifen. Wie bei all seinen Filmen, die kurzen eingeschlossen, hat er das Drehbuch dazu selbst verfasst. Kelly-Anne begleitet jeden Tag den Prozess gegen den vermeintlichen Serienkiller Ludovic Chevalier. Dieser soll gegen Bezahlung, im Live Stream drei minderjährige Mädchen in einem im Dark Web zu findenden, sogenannten Red Room gefoltert und getötet haben.

Man kann sich ungefähr vorstellen, wie eine Mainstream-Produktion mit so einem Stoff umgegangen wäre. All das muss man bei Pascal Plante vergessen. Er zeigt keinen Mord, er zeigt nicht einmal Blut. Aber er geht unter die Haut, lässt einen erschaudern, lehrt einem das Fürchten. Und all die grausamen Dinge die im Film nur angesprochen werden, werden sich in den Gedanken des Publikums als Film abspielen. Mit einer klaren Struktur, einer perfekt darauf abgestimmten Kameraarbeit, einem fantastischem Soundtrack, und der spektakulären Juliette Gariépy, wird RED ROOMS zu einem unglaublich fesselnden, unerwartet nervenaufreibenden Psychothriller.

Wer sich auf diesen Film einlässt, dem hat der Filmemacher eigentlich nichts zu bieten, was dem regulären Kinopublikum einen starken oder gar einnehmenden Thriller versprechen würde. Sequenz auf Sequenz ist er so unvorhersehbar, wie es für den maximalen Effekt nur möglich ist. Dabei ist aber nicht die Rede vom üblichen Spannungskino, oder einer raffinierten Konstrukt an Überraschungen. Und doch sorgt Pascal Plante auf seine Weise für beides. Kelly-Anne ist ein Model, verdient sich aber richtig viel Geld bei Online-Poker. Sie nimmt lediglich Protein-Shakes zu sich, und ist IT-Fanatikerin. Ihre benutzerdefinierte Computer-Assistentin ist das näheste was Kelly-Anne als sozialen Kontakt bezeichnen kann. Das alles erfahren wir nach und nach, ohne Worte, ohne tiefere Erklärung, während sich gleichzeitig die Informationen über Ludovic Chevaliers Taten über die Zuschauenden legen. Unerbittlich und grauenhaft.

Red Rooms 3 - Coypright NEMESIS FILMS

Sehr selten schafft es ein Film, eine derart eindringliche, unheilvolle und beunruhigende Stimmung zu erzeugen, gerade weil er auf Grausamkeiten im Bild verzichtet. Ohne das er überhaupt einen Moment von Bedrohung oder Gefahr inszeniert. Das Kopfkino läuft parallel zur Leinwand auf Hochtouren. Vincent Biron hat die Kameraführung übernommen. Er ist sich gewiss, wie man einen Thriller gegen den Strich bürstet. Die Eingangssequenz führt in einen strahlend weißen Gerichtssaal. Die Kläger und Besucher nehmen Platz, die Plädoyers werden gehalten, die grauenhaften Vorwürfe in pragmatischer Nüchternheit vorgetragen, Kelly-Anne beobachtet stoisch.

Fünfzehn Minuten dauert die Eingangssequenz, die in einer einzigen Einstellung gedreht ist, sich im gesamten Saal bewegt, und stets in den richtigen Momenten Personen hervorhebt, oder Reaktionen einfängt. Die fließende, ganz ruhige Führung der Kamera ist ein Glanzstück im atmosphärischen Erzählen. Später außerhalb des Gerichts, nimmt Biron die Protagonistin mit raffinierten Schärfenverlagerungen immer wieder aus eben jener realen Welt, die eigentlich Realität ist. Er setzt sie auf sich allein gestellt in eine verschwommene Umgebung. Licht gibt es in Kelly-Annes Appartement nur von den Computer-Bildschirmen. Juliette Gariépy ist bewundernswert mit ihrem klaren, forschenden Blick und ihrer stoischen Anmut. Sie ist eine sehr schwierige Protagonistin, weil sie unnahbar bleibt, die Zuschauenden auch nicht an sich heran lässt. Eine ablehnende Haltung ihr gegenüber nimmt Pascal Plante in Kauf, denn er will aufzeigen und nicht aufklären. Wie könnte man eine Person wie sie auch erklären.

Kelly-Anne lernt die aufbrausende Clementine kennen, die dem Pressechor vor dem Gerichtssaal lautstark erklärt, dass Ludovic unschuldig sein muss. Clementine wird das gefühlsintensive Pendant zu Kelly-Anne. Beider Beziehung wird sich am Wendepunkt des zweites Aktes ändern, wenn Plante unvermittelt in einen nur schwer zu durchschauenden Thriller-Modus wechselt. Plötzlich wird alles möglich, alles kann geschehen. Wir als Beobachter können den Verlauf nicht einmal wirklich erahnen, weil uns Kelly-Anne nie an sich herangelassen hat. Am Ende entlässt uns Pascal Plante aus einem der unerwartet intensivsten, weil verstörendsten Thriller seit langem. Es ist selten, dass man derartige Worte gelassen aussprechen kann. Man sollte es aber auch nicht unbedingt als Lobeshymne missverstehen. Denn dafür ist RED ROOMS zu speziell, zu düster, zu unerschrocken, und herausfordernd provozierend.

Red Rooms 2 - Coypright NEMESIS FILMS

Darsteller: Juliette Gariépy, Laura Babin, Elisabeth Locas, Maxwell McCabe-Lokos, Natalie Tannous, Pierre Chagnon, Guy Thauvette u.a.

Regie & Drehbuch: Pascal Plante
Kamera: Vincent Biron
Bildschnitt: Jonah Malak
Musik: Dominique Plante
Produktionsdesign: Laura Nhem
Kanada / 2023
118 Minuten

Bildrechte: NEMISIS FILMS / 24 BILDER FILMAGENTUR
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