RADICAL
– Bundesstart 21.03.2024
– Release 20.10.2023 (MEX)
Im Jahr 2011 kommt Sergio Juárez Correa in die José Urbina López Grundschule von Matamoros. Ein ausgebrannter Aushilfslehrer, der mit neuen Lehrmethoden versucht vor allem den Kindern, aber auch sich selbst neue Perspektiven zu geben. Matamoros ist eine mexikanische Grenzstadt zu den Vereinigten Staaten, gezeichnet von Armut und der Gewalt durch Bandenkriminalität. Die Schule hat den schlechtesten Notendurchschnitt des Landes. Mit dem strikten Schulmotto von Ruhe, Disziplin und Gehorsam wollen die Lehrer einfach nur den Tag überstehen. Die meisten Schüler brechen ohnehin vorher ab, um die Familie zu unterstützen, oder sich einem Drogen-Clan anzuschließen. Sergio will das System herausfordern. Mit der Methodik des freien und eigenständigen Lernens, möchte er bei seiner Klasse das Desinteresse an Wissen niederreißen. Und das mit all den zu erwartenden Widerständen.
Aus dramaturgischer Notwendigkeit verlieren viele Verfilmungen an faktischer Genauigkeit. Bei Radical überkommt einen das Gefühl, dass die Adaption nicht näher an der Vorlage sein könnte. Das geht sogar bis zum Cowboy-Hut des Vaters von Paloma, die weibliche Hauptrolle. Regisseur Christopher Zalla hat zusammen mit Laura Guadelupe A das Drehbuch geschrieben, dass auf dem Artikel „A Radical Way of Unleashing a Generation of Geniuses“ von Joshua Davis beruht, der 2013 im Magazin ‚Wired‘ erschien. In erster Linie beleuchtet der Artikel alternative Lehrmethoden, als Beispiel fand Davis die 12-jährige Paloma Noyola Bueno und ihren Lehrer Sergio Juárez Correa.
Sergio beginnt seinen ersten Tag damit, dass er Stühle und Bänke als Rettungsboote deklariert, und die Schüler sich zu gleichen Teilen auf die Boote verteilen müssen. Sein Experiment misslingt, weil die Kinder selbstständiges Denken und Handeln nicht gewohnt sind. Schließlich ermutigt Sergio die Kinder voller Leidenschaft, ihn nur dumme Fragen zu stellen. Die Verwirrung wechselt bald in Neugierde. Die ‚dummen‘ Fragen werden in praktischen Experimenten im Schulhof beantwortet. Die anderen Lehrer halten am Lehrplan fest, und reagieren feindselig. Rektor Chucho ist sehr skeptisch, lässt Sergio aber zuerst einmal gewähren. Denn eigentlich haben die Schüler nichts zu verlieren.
Nach einer sehr übersichtlichen Regie-Karriere fürs Fernsehen, hat Christopher Zalla mit RADICAL sein Leinwand-Debut realisiert. Er tut das mit einem Stoff, der es dem Regisseur eigentlich sehr leicht macht. Wahre Begebenheiten die von Menschlichkeit, dem Willen gegen widrige Umstände, und dem erfolgreichen Kampf gegen Ungerechtigkeit geprägt sind. ‚Oscar-Köder‘ nennt man solche Geschichten. Dafür hat es allerdings bei Zallas Adaption nicht gereicht. Dennoch ist RADICAL ein mit spürbarer Hingabe und echtem Herzblut durchdrungener Film, wobei Zalla seinen positiven Enthusiasmus in der Führung der Darsteller und inszenieren von Szenen immer wieder überspannt.
Die grausame Realität in Matamoros, und die entfachte, bis dato unbekannte Leidenschaft der Kinder gestaltet sich sehr eindringlich durch die steten Stimmungswechsel zwischen beiden Welten. Die kindliche Euphorie des Lehrers mit seinen begeisterten Schülern wird immer wieder von Szenen schonungsloser Gewalt unterbrochen. Für die Figuren im Film sind das alltägliche, wahrgenommene Bilder und Situationen. Für das Publikum bitteres Zeugnis, wie notwendig, aber auch überaus schwierig es ist, diese Kinder für etwas zu begeistern, dass weit außerhalb ihrer Lebenserfahrungen liegt. Bildung, Selbstständigkeit, und die Möglichkeit aus einem zerstörerischen Kreislauf auszubrechen.
Was man von außen sieht und fühlt, steht in manchen Szenen im viel zu starken Kontrast zu Sergios aufdringlicher Euphorie. Eugenio Derbez spielt mit Energie und sichtlicher Freude, aber er überzeugt nicht in den Nuancen. In seinem forschen Tatendrang müssten sich eigentlich die Tragödien hinter dieser Gesellschaft und dem Bildungssystem widerspiegeln. Aber es fehlt auch Zalla das Vermögen, angemessen die Intensität in den Gegensätzen des Systems und Sergios Absichten zu demonstrieren. Seine Inszenierung ist eher darauf bedacht Sergios unorthodoxe Lehrmethoden möglichst unterhaltsam zu gestalten. Die schonungslose Dramatik in anderen Sequenzen wird vernachlässigt.
Natürlich kann RADICAL nicht verleugnen unverkennbare Vorbilder wie Peter Weirs DEAD POETS SOCIETY zu haben. Auch wenn Christopher Zallas Film nie die inszenatorische Kraft von Weirs Beitrag erreicht, hat RADICAL den grotesken Bonus einer wahren Geschichte. Und die muss erzählt werden. Joshua Davis Artikel für ‚Wired‘ dreht sich in erster Linie um Paloma, die durch Sergio Juárez Correas inspirierende Lehrmethoden Notenbeste in ganz Mexiko wurde. Ihren Traum als Raumfahrttechnikern hätte sie verwirklichen können, entschloss sich aber für ein Lehramt. Alleine Jennifer Trejos eindrucksvolle Darstellung der Paloma macht den Film bemerkenswert.
Wesentlich stärker muss sich Zalla mit Ramón Menéndez‘ STAND AND DELIVER messen lassen, in dem Jaime Escalante in Gestalt von James Edward Olmos seinen unterprivilegierten Kindern mexikanischer Auswanderer einen Schulabschluss ermöglicht. Vergleiche sind selten angebracht. Allerdings fällt hier auf, dass Christopher Zalla in seinem mit spürbarer Hingabe und echtem Herzblut inszenierten Werk schlichtweg homogene Strukturen fehlen. RADICAL bleibt dennoch ein wichtiger, sehenswerter und vielleicht sogar inspirierender Film, aber hinter seinen Möglichkeiten.
Darsteller: Eugenio Derbez, Daniel Haddad, Jennifer Trejo, Mia Fernanda Solis, Danilo Guardiola, Victor Estrada, Gilberto Barraza u.a.
Regie & Drehbuch: Christopher Zalla
Co-Autorin: Laura Guadalupe A
nach dem ‚Wired‘-Artikel von Joshua Davis
Kamera: Mateo Londono
Bildschnitt: Eugenio Richer
Musik: Pascual Reyes, Juan Pablo Villa
Produktionsdesign: Juan Santiso
Mexiko / 2023
125 Minuten