– Bundesstart 18.01.2024
– Release 08.12.2023 (US) limited
Es ist schon eine absonderliche Welt, in der nichts absonderlich genug sein kann, um einen Film zu bewerben. Seit drei oder vier Jahren geschieht das mit der Dauer von stehenden Ovationen bei Filmfestivals wie Venedig oder Cannes. Als ob es tatsächlich ein gültiges Qualitätsmerkmal sein könnte. Diese absonderliche Hervorhebung von stehenden Ovationen in der Presse, passt allerdings ganz hervorragend bei einem absonderlichen Film – Yorgos Lanthimos‘ POOR THINGS. Da waren es 7,5 Minuten, bei den Filmfestspielen in Venedig. Stark anzunehmen das dies nicht nur der künstlerischen Qualität des Films galt, sondern in erster Linie dem Mut des unerschrockenen Filmemachers Lanthimos. Der musste wegen des Schauspielerstreiks ja ohnehin diesen Applaus alleine entgegen nehmen. Für einen Film der wahrhaftig das Publikum herausfordernd und durchaus provoziert. Der einen durchaus sprachlos lässt, und gleichzeitig unglaublich absurd witzig unterhält.
Der brillante, und natürlich irgendwie verrückte Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter, der Name ist Programm, wird von seiner Schöpfung nur God – Gott -, genannt. Die Schöpfung ist Bella eine junge Frau, die sich das Leben genommen hat, und von God mit einem makaberen, medizinischen Experiment zurückgeholt wurde. Was genau operiert wurde, darf an dieser Stelle nicht besprochen werden, weil es den Kern für das metaphysische Gerüst bildet. Und in dem beweist sich die Geschichte viel raffinierter und tiefgründiger als man annehmen könnte. Aber zuerst ist da eine Ente mit Ziegenkörper, oder ein Hund mit Entenkörper, und dazwischen Emma Stone mit dem Geist eines Kleinkindes.
Und Emma Stone als Bella ist eine Überfigur, und außergewöhnlich bewusst inszeniert. Sie kann noch nicht richtig laufen, sie spricht nur Wortfetzen, schmeißt aus Spaß mit Geschirr, und ist trotzig wenn God sie maßregelt. Ein typisches Kleinkind, und Emma Stone wird dabei zu einem ungehemmten Energiebündel, in einer Form wie sie tatsächlich noch nie zu sehen war. Aber Stone und alles um sie herum, legt noch einiges an peinlich berührenden und zugleich brüllend komischen Qualitäten zu, wenn Bella ihre Sexualität entdeckt. An körperlicher oder sprachlicher Freizügigkeit war Emma Stone selten zurückhaltend, aber Lanthimos entfesselt eine noch nie erfahrene Naturgewalt.
Auch über den fantastischen Mark Ruffalo muss man anmerken, dass er als Duncan Wedderburn so losgelöst und mitreißend ist, wie in noch keinem seiner bisherigen Filme. Er wird Bella mit auf Reisen nehmen, aber nur wegen ihrer zügellosen Leidenschaft für Sex. Die Dialoge in diesen Situationen sind genauso absurd komisch, wie die Sexszenen freizügig inszeniert sind. Bellas geistige Entwicklung kann mit dem körperlichen Erwachen der Frau kaum mithalten, was Wedderburn überfordert. Es ist unglaublich amüsant zu beobachten, wie Ruffalo immer mehr Attitüden annimmt, die man volksnah gerne ‚weibisch‘ nennt. Mit Bellas Erstarken tauscht sich das Rollenverhalten.
Ruffalo ist mit Stone nie wirklich gleich auf, aber stets unmittelbar hinter ihr. Dieser Duncan Wedderburn wird immer wieder Bellas intellektuelles Gegengewicht. Doch die Geschichte will es, dass grundsätzlich mit jeder Figur individuelle Charaktereigenschaften einhergehen. Das nüchtern pragmatische Wesen von Dr. ‚God‘ Baxter. Der scheue, von Liebe gelähmte Assistent Max McCandles. Die gütige, mit allen Wassern gewaschene Bordellbesitzerin Swiney. Der rachsüchtige und mordlüsterne Alfie Blessington, Bellas Gatte aus vorsuizider Zeit. Sie alle haben einen spezifischen Einfluss auf Bellas Entwicklung, sind aber gleichsam substanzielle Bereicherung für die Erzählung.
Bei THE LOBSTER oder THE FAVOURITE führt Yorgos Lanthimos das Publikum behutsam an die Absurditäten innerhalb seiner Geschichten heran. Mit POOR THINGS stößt er die unvorbereiteten Zuschauenden rücksichtslos mitten in ein ausladendes Szenario an fremden Eindrücken. Es gibt überzeichnendes Technicolor, aber Teile sind auch in Schwarzweiß, das Bildformat ein nie genutztes 1,66:1. Holly Waddingtons grandioses Kostümdesign lässt Emma Stone mit extrem bauschigen Schulterstücken gegen die Männer monströs erscheinen, unterstreicht aber auf widersprüchliche Weise gleichzeitig das zierliche Wesen von Bella. Eine Frau ohne jedes Schamgefühl.
POOR THINGS ist kein einfacher Film. Er ist sogar höchst fragwürdig, und Anfangs auch unangenehm. Yorgos Lanthimos erklärt nicht, sondern lässt das Publikum erfahren. Erst mit Bellas wachsender Erfahrung bekommt der Film auch einen wunderbaren Rhythmus, sowie eine faszinierende Erzählstruktur. Doch der Film bleibt ständig auf der Schwelle von verstörender Obskurität, weil Lanthimos immer wieder Grenzen überschreiten lässt. Nicht nur in seiner Freizügigkeit, sondern durch die Brüche mit den konventionellen Gestaltungsformen. POOR THINGS wird bewusst zu einer ungezügelten Mischung aus Terry Gilliams Filmen und dem trockenen Slapstick von Buster Keatons Werken.
Mit diesen Brüchen findet Yorgos Lanthimos auch seine ganz eigene Sprache, die zurückführt zum expressionistischen Kino der 1920er. Komplett in Studiokulisse gedreht, wobei die Waldszenen anders anmuten. Und mit sehr eindrucksvollen, aber leicht erkennbar gemalten Horizonten. Die Beleuchtung ist merkliches Studiolicht, und die Perspektiven in den Kulissenbauten verschoben. Und dazwischen bewegt sich Robby Ryans Kamera, als müsste sie jeden Dialog und jede Handlung noch einmal optisch unterstreichen. Es ist ein wahrhaft visuelles Fest für cineastische Nostalgiker, und eine alptraumhafte Herausforderung für den vom Mainstream verwöhnten Puristen.
Um die Zuschauenden aus der reinen Beobachterposition zu reißen, unterbricht Ryan immer wieder die optische Charakteristik mit Einstellungen von Fischauge-Objektiven. Behält der Regisseur narrativ einen elegant führenden Rhythmus, steuern die unvermittelten 180 Grad Perspektiven der Räumlichkeiten immer wieder dagegen. Yorgos Lanthimos will einfach keine Geschichte, in der man sich nur trieben lassen kann. Eigentlich stellt er alles auf den Kopf, weshalb sich auch die Genialität hinter Bellas Figur lange versteckt hält. Eine Frau, die aus ihrer eigenen Lust heraus beharrlich von Männern fordert, was diese lediglich als sexualisiertes Ideal von Frauen zu wünschen wagen.
Als Kind, als Jugendliche, als Geliebte, und auch als Gattin. In jedem Stadium ihrer Entwicklung durchbricht Bella die Erwartungen der chauvinistischen Dominanz, weil sie dieser ständig aus eigenem Trieb und Wissbegierde voraus ist. Diese Frau wird zu ihrer eigenen Entwicklungsstufe der Evolution, was wiederum den Zirkelschluss zum Anfang bildet. Man muss sich aber auch darauf einlassen können, dann wird POOR THINGS weit mehr als nur eine herausfordernde Provokation. Es wird eine faszinierende Erfahrung. Dann erwischt einen Yorgos Lanthimos auf gleiche Weise, wie Bella Baxter ihr patriarisches Umfeld – überwältigt und wehrlos gegen all die faszinierenden Eindrücke.
Darsteller: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, Ramy Youssef, Kathryn Hunter, Christopher Abbott u.a.
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Tony McNamara
nach dem Buch von Alasdair Gray
Kamera: Robbie Ryan
Bildschnitt: Yorgos Mavropsaridis
Musik: Jerskin Fendrix
Produktionsdesign: Shona Heath, James Price
Irland, Großbritannien, USA / 2023
141 Minuten