– Bundesstart 30.05.2024
– Release 16.11.2023 (USA)
Was wirklich stört in Todd Haynes‘ Psychodrama MAY DECEMBER, ist der exzessive Einsatz von Michel Legrands Filmmusik aus DER MITTLER. Die Musik ist bekannt, der Film weniger. Gedreht 1971, hat DER MITTLER einen ähnlichen Hintergrund wie MAY DECEMBER. Aber die von Marcel Zarvros neu arrangierte Musik mit ihrem markanten Thema, ist viel zu aufdringlich in der ohnehin schon packenden Umsetzung von Todd Haynes. Die Schauspielerin Elizabeth Berry kommt nach Savannah, Georgia, um Gracie Atherton-Yoo kennenzulernen. Elizabeth wird die Rolle einer jungen Gracie spielen, in der Adaption ihrer fragwürdigen Lebensgeschichte. Mit 36 Jahren hatte Gracie eine sexuelle Beziehung mit dem 13-jährigen Joe Yoo. Dafür musste sie ins Gefängnis, und brachte dort ein Kind von Joe zur Welt. Jetzt, 23 Jahre später, sind Gracie und Joe glüklich verheiratet und haben zusammen drei Kinder. Elizabeth wird von Gracies Familie und Freunden mit Vorsicht aber durchaus freundlich aufgenommen. Sie verbringt einige Tage in einer Welt, in welcher der bizarre Hintergrund der Beziehung keine Rolle zu spielen scheint.
Samy Burch und Alex Mechanik haben eine intensive, in sich selbst verwobene Geschichte geschrieben, die den moralischen Kompass von Szene zu Szene immer wieder neu ausrichtet. Das Drehbuch basiert auf einer wahren Geschichte, die aber hier ohne weitere Erwähnung bleiben soll. Gleich zu Beginn inszeniert Todd Haynes zwei Momente, die in Kameraführung und Toneffekt wie aus einem Gruselfilm wirken. Es bleibt unklar warum. Verwunderlicher ist aber der überfrachtete Einsatz der Musik, die kaum als Untermalung bezeichnet werden kann, weil sie sich weit über die optischen Eindrücke hebt.
Es hat den Anschein, als wollte Haynes jeder Sequenz noch mehr Dramatik zukommen lassen, weil er der eigenen Inszenierung nicht vertrauen würde. Dabei läuft das Karussell der Emotionen bereits von Anfang an auf Hochtouren. Elizabeth möchte Gracie verstehen, und tiefer blicken als das Offensichtliche hergibt. Gracie will eigentlich nur verstanden werden, aber jene Angelegenheit nicht hochspielen, welche für sie einen Normalzustand erreicht hat. Natürlich ist es nicht normal, weder die Vergangenheit, noch der heutige Zustand. Aber Elizabeth versteht nicht, wo dabei die Grenzen zu ziehen sind.
Es ist kein Zwei-Personen-Stück, was Haynes auch sehr gut nutzt, um die Sichtweisen immer wieder zu verschieben. Freundeskreis und der erste Ehemann zeichnen von Gracie ein anderes Bild, als das was Elizabeth versucht zu finden. Ist Gracie am Ende tatsächlich nur eine Frau, welche ihr Unrecht nicht einzuschätzen weiß. Beide Figuren umkreisen sich ständig mit Skepsis und Vorsicht, umgeben von Menschen die nie Fragen stellen, und im Status Quo leben. Natalie Portman und Julianne Moore führen ihre Figuren auf einem schmalen Grat zwischen anziehender Faszination und verstörendem Schrecken.
Der Regisseur lässt seinen Bildgestalter Christopher Blauvelt markante Szenen über Spiegel oder aus der Sicht eines Spiegels filmen. Das erzeugt den Effekt, dass Elizabeth und Gracie das Publikum direkt anzusprechen scheinen. Einmal schminken sich die Frauen gegenseitig, und wenn sie nebeneinander das Ergebnis im Spiegel betrachten, ist aus Elizabeth wahrhaftig eine junge Version von Gracie geworden. Ein starkes Sinnbild, weil beide Frauen von der selben Charakteristik geprägt sind. Beide sind stark und wissen was sie wollen. Wer dabei auf höherem moralischen Grund steht bleibt fraglich.
Versucht Gracie mit ihrem Selbstverständnis für die Situation ihre Person in ein besseres Licht zu rücken? Möchte Elizabeth am Ende nur etwas unbegreiflich Düsteres für diese sonst kaum zu fassende Figur finden? In Gracies Welt von Savannah ist Elizabeth die Außenseiterin, der hier mit misstrauischer Vorsicht begegnet wird. Zwischen den beiden Figuren entwickelt sich ein psychologischer Kraftakt von selten konkreter, aber ständig brodelnder Intensität. Die latente Auseinandersetzung findet aber nie im Lauten statt, sondern spielt sich immer zwischen den Zeilen der sorgsam gewählten Worte ab.
Thematisch, aber in erster Linie inszenatorisch, ist MAY DECEMBER ein Film, der nur mit solchen Naturgewalten wie Moore und Portman wirklich funktionieren kann, und letztendlich dann auch tut. Hier strahlt jede Szene etwas undefinierbar unangenehmes aus, weil ständig dieses Bild eines 13-jährigen im Raum steht, der von einer 36-jährigen verführt wurde. Unangenehm ist auch, dass beide Figuren gleichwertig behandelt werden, und dem Publikum dabei immer wieder den moralischen Boden entziehen. Bis schließlich Elizabeth einiges von Gracies Stimme, Mimik und Manierismen verinnerlicht hat.
Vor einem Spiegel, wodurch Elizabeth dem Publikum direkt in die Augen schaut, rezitiert sie einen 23 Jahre alten Brief von Gracie an Joe. Portman wird dabei in Sprache und Ausdruck zu Moore. Es ist eine erschreckend beeindruckende Metamorphose, die letztendlich alle ethischen Grenzen endgültig verschwimmen lässt. Und es ist eine darstellerische Meisterleistung von höchster Güte. Todd Haynes hat einen beklemmenden Thriller geschaffen, der nie reißerisch wird um jederzeit den Kern seines schwierigen Themas zu treffen. Auch ohne die aufdringlich manipulative Musik. Dazu braucht es aber zwei Protagonisten, die unablässig die perfekte Tiefe jeder Szene auszuloten verstehen. Und das sind Natalie Portman und Julianne Moore.
Darsteller: Julianne Moore, Natalie Portman, Charles Melton, Cory Michael Smith, Elizabeth Yu, Gabriel Chung, Piper Curda, D.W. Moffett u.a.
Regie: Todd Haynes
Drehbuch: Samy Burch, Alex Mechanik
Kamera: Christopher Blauvelt
Bildschnitt: Affonso Goncalves
Musik: Marcelo Zarvos
Produktionsdesign: Sam Lisenco
USA / 2023
117 Minuten