KINDS OF KINDNESS

 Kinds of Kindness - Copyright SEARCHLIGHT PICTURES– Bundesstart 27.06.2024
– Release 30.05.2024 (GRC)

Hier an dieser Stelle war über Yorgo Lanthimos‘ vorherigen Film POOR THINGS zu lesen, er würde immer wieder durch verstörende Obskuritäten mit den konventionellen Gestaltungsformen brechen. Und doch ist POOR THINGS auf bizarre Weise Lanthimos‘ kommerziellster Film. Nicht einmal ein Jahr nach dem, zu Recht, preisgekrönten Erfolg, legt der griechische Ausnahme-Regisseur schon wieder nach – bei dem das Attribut Ausnahme absolut gerechtfertigt ist. Seine Stammkünstler hat er in allen Gewerken natürlich gleich behalten, und Efthimis Filippou wieder zurückgebracht, Co-Autor vorheriger Film. Nur im Produktionsdesign sind Shona Heath und James Price nicht dabei, und werden von Anthony Gasparro vertreten. Wahrscheinlich waren sie verständlicherweise noch vom extravaganten Rausch für POOR THINGS entkräftet. Jetzt muss man noch hinzufügen, dass dieser gesamte, bisherige Text nur davon ablenkt, sinnvoll über KINDS OF KINDNESS zu reden. Aber wie will man auch einen Film besprechen, der sich jeder Besprechung entzieht?

Als KINDS OF KINDNESS in Cannes vorgestellt wurde, wurde immer über ein Triptychon im Filmformat gesprochen. KINDNESS ist tatsächlich eine dreiteilige Anthologie. Aber während ein sakrales Triptychon mit seinen drei Bildern eine Einheit darstellt, macht Lanthimos keine Verbindung zwischen seinen drei Geschichten deutlich. Es gibt diese Verbindungen, aber man muss sie mühsam suchen, oder eine Deutung nach eigener Fantasie zusammenbasteln. Das in allen drei Episoden dieselben Darsteller in unterschiedlichen Rollen auftreten, zählt allerdings nicht dazu. Aber darüber später mehr. Wenn man ein bewegliches Triptychon schließt, bilden die zwei äußeren Flügel noch einmal ein weiteres Bild auf ihren Rückseiten. Aufgemerkt – denn Lanthimos hat so eine erzählerische Erweiterung ebenfalls in seine Anthologie eingeflochten.

Die drei Geschichten beschäftigen sich mit Kontrollverlust, Machtmissbrauch, und/oder Hörigkeit. Eine nähere Beschreibung der einzelnen Episoden kann man versuchen, würde aber nicht annähernd erklären, was einen dabei erwartet. Sicher ist das KINDNESS ein Werk nihilistischer Filmkunst ist. Lanthimos und sein Co-Autor Filippou, und noch viel stärker Lanthimos allein als Regisseur, nehmen keine Rücksicht auf Form, Genre, Inhalt, oder Publikum. Griechische Tragödie, halb-pornografisches, Farce, Horror, Satire, aber in erster Linie überwältigendes Schauspielkino. Bei POOR THINGS braucht man dreißig Minuten um in den Charakter des Films zu kommen. Nach 164 Minuten KINDS OF KINDNESS ist man sich noch immer nicht sicher, was man hier erfahren durfte. Aber deswegen gibt man als Zuschauender noch lange nicht auf. Im Gegenteil.

Noch viel stärker als in den früheren Arbeiten für Lanthimos, zeichnet Kameramann Robbie Ryan hier grafische Bilder mit noch klareren Linien und vermehrt symmetrischer Kadrierung. Die unverfälschte Farbgebung wirkt eher nüchtern, und die Lichtgestaltung konzentriert sich auf scheinbar natürliches Licht, künstliche Lichtsetzung wir nicht offensichtlich. Mit Ryans klugem optischen Bildkonzept konterkariert die Kamera raffiniert die bizarren Geschichten und deren absurde Inszenierung. Da ist ein Mann der von seinem Boss und gleichzeitigem Liebhaber unterdrückt wird. Gefolgt von einer verschollen geglaubten Frau, die nach Tagen zurückkehrt, aber starke Zweifel beim Mann weckt, ob sie wirklich die Gattin ist. Und schließlich ein Paar, dass eine Wunderheilerin für seine Sekte finden muss, welche Tote wieder zurück ins Leben rufen kann.

Kinds of Kindness 1 - Copyright SEARCHLIGHT PICTURES

Die geniale Idee das dieselben Darsteller in allen drei Episoden unterschiedliche Figuren spielen, ist weniger genial, weil ein Zufallsprodukt. Allerdings mit Anstrich einer göttlichen Fügung. Studiert man auf vertrauenswürdigen Seiten im WWW, war es ursprünglich eine unendlich scheinende Liste von erwogenen Darstellern für jeden Charakter. Geblieben sind Plemons, Stone, Dafoe, Qualley, Chau und Athie, als während des Dreh beschlossen wurde, die Schauspieler als verbindende Elemente für alle Episoden zu besetzen. Göttliche Fügen. Auch wenn weder Figuren, noch das Spiel der Darsteller selbst, erkennbare Brücken schaffen. Selbst wenn man verzweifelt danach sucht- Und das tut man. Weil den dramatischen, manchmal auch brüllend komischen, aber stets bizarren Fantasien des Films eine unglaublich fesselnde Atmosphäre innewohnt.

Über die atemberaubende Unberechenbarkeit der fantastischen Emma Stone muss man nicht mehr viele Worte verlieren. Lediglich Willem Dafoe hat erstaunlich wenig zu tun, was seine Figuren besonders machen würde. Selbst als rosa Kapuzenpulli tragender Guru bleibt er erstaunlich zurückhaltend. Dafür glänzt Jesse Plemons. Darstellerisch ist KINDNESS definitiv sein Film. Er spielt seinen unglücklichen und beherrschten, aber stets verlorenen Jedermann in jeder der drei Geschichten in vollkommen gegenläufigen Interpretationen. Vielleicht ist es nicht die verdrehte Erzählform und waghalsige Kompromisslosigkeit von Lanthimos‘ Film die einen reizt, anspricht und überrascht. Dann ist es wenigstens das starke Ensemble, das die immer wieder grotesken Überhöhungen in den Handlungen wie die natürlichsten Gegebenheiten dem Publikum antragen.

Wo entnehmen sich schon Menschen mit dem Küchenmesser selbst eine Leber, nur weil es als Treuebeweis verlangt wird? Es sind allerdings nicht nur solche Situationen, mit denen einen der Film überfordern kann, sondern er provoziert mit der Essenz dieser Ereignisse. Ist KINDS OF KINDNESS am Ende selbst die Essenz des losgelösten Autorenkinos? Nichts scheint Yorgos Lanthimos weniger zu interessieren. Zweifelsfrei wird dieser Film Diskussionen anstoßen, auf die eine oder andere Weise. Denn der Filmemacher selbst verweigert jede Form der Erklärung. Und das alleine ist bei KINDS OF KINDNESS schon unglaublich spannend.

Kinds of Kindness 2 - Copyright SEARCHLIGHT PICTURES

 

Darsteller: Jesse Plemons, Emma Stone, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Hong Chau, Mamoudou Athie u.v.a.
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Yorgos Lanthimos, Efthimis Filippou
Kamera: Robbie Ryan
Bildschnitt: Yorgos Mavropsadiris
Musik: Jerskin Fendrix
Produktionsdesign: Anthony Gasparro
Irland, Großbritannien, USA / 2024
164 Minuten

Bildrechte: SEARCHLIGHT PICTURES
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Im Kino gesehen abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar