Dieser Film war Beitrag des Fantasy Filmfest 2023
INFESTED a.k.a. VERMINES
– Bundesstart 21.11.2024
– Release 27.12.2023 (FRA)
Der Originaltitel bedeutet Ungeziefer, wie diesen Film auch ein angetanes Publikum auf den Festivals kennenlernte. Das hatte eine essenzielle Bedeutung für Schöpfer Sébastien Vaniček, es war metaphorisch. Aber dazu später. Die Umbenennung für die internationale Kinoauswertung in ‚verseucht‘ oder ‚Heimsuchung‘ kommt da nur geringfügig mithalten. Nur in Süd- und Mittelamerika entschied man sich für den wenig subtilen Titel SPINNEN. Da zieht Deutschland gleich mit, weil deutsche Verleiher das hiesige Publikum nach wie vor für dämlich halten. Da Dummheit keine Grenzen kennt, macht man daraus das englische SPIDERS. Wie gerne würde man sich bei solchen Entscheidungen, mit einem Prügel in der Hand, mit an den Tisch setzen. Soweit zu den immer wieder notwendigen, verbalen Gewaltausbrüchen, die weit weniger aufregend sind, als Sébastien Vaničeks SPIDERS – IHR BISS IST DER TOD.
Kaleb lebt mit seiner Schwester in der Eigentumswohnung ihrer verstorbenen Mutter, in einem Vorort von Paris. Der außergewöhnliche Wohnblock ist, was man als Außenstehender einen sozialen Brennpunkt nennt, aber in Wirklichkeit ein Ort von funktionierenden sozialen Gefügen ist. Kaleb liebt exotische Insekten und Spinnentiere. Seine jüngste Errungenschaft kommt aus einem arabisch geführten Laden in der Nachbarschaft. Die Huntsman-ähnliche Spinne, etwa 8 Zentimeter groß, nennt er liebevoll Rhianna. Und Rhianna hat alles andere vor, als in ihrem vorläufig gewählten Schuhkarton zu bleiben, während sich Kaleb die Zeit auf einer Hausparty vertreibt.
Es sind zwei Aspekte welchen diesen Film außergewöhnlich machen. Der eine Aspekt ist die unglaublich naturalistische Dynamik zwischen den Darstellern (Filme beim Fantasy Filmfest werden immer in Originalsprache gezeigt). Es sind lebensechte Figuren, die realistisch reden, interagieren und handeln. Ja, es geht um Spinnen, jede Menge Spinnen, und die machen richtig Angst. Aber die wirkliche Spannung entsteht aus dem fabelhaften Ensemble, dass zwar von Théo Christine angeführt, aber nicht beherrscht wird. Die Besonderheit in Regisseur Vaničeks Konzept, ist die Führungsrolle innerhalb der Fünfergruppe der ungewöhnlichen Helden immer wieder zu verschieben.
Der zweite Aspekt sind ausgerechnet die Spinnen (Der Regisseur spricht von 200 Riesenkrabbenspinnen für die Dreharbeiten). Sébastien Vaniček schafft es tatsächlich, dem Tierhorror ausgerechnet mit Spinnen noch ganz neue Unterhaltungswerte hinzuzufügen. Obwohl jeder Cineast davon überzeugt ist von TARANTULA, über ARACHNOPHOBIA, bis hin zu STING oder BIG ASS SPIDER, die achtbeinigen Freunde schon in allen Genres erlebt zu haben. Und doch steht Vaničeks Film auf ganz eigenen Beinen, weil sein inhaltlicher Anspruch auch in eine eigene Richtung geht.
Das Spielfilmdebüt des ideenreichen Filmemachers beruht auf den eigenen Erfahrungen, in einem Pariser Vorort aufgewachsen zu sein. Für die Außenaufnahmen stand das markante Gebäudeensemble Arènes de Picasso mit seinen 540 Sozialwohnungen zur Verfügung. Die Innenkulissen wurden dem angepasst. Orte wie das Arènes de Picasso werden von sozial Schwachen und Migranten bewohnt. Hier spielt VERMINES, oder eben SPIDERS, in einem Schmelztiegel von Nationalitäten und Ethnien. Dorthin wo die gehobene Gesellschaft das soziale „Ungeziefer“ gerne abschiebt. Aber der Film zeigt keine selbstverschuldeten Asozialen, oder narzisstischen Kriminellen, sondern einen in sich geschlossenen Kosmos der gerade aus den Umständen heraus funktioniert.
Der Spinnenhorror beginnt sehr schnell. Alexandre Jamins Kameraführung hat dabei einen fast dokumentarischen Stil, schafft dadurch eine intensive Nähe zu den Figuren, und vermittelt auch die klaustrophobische Enge in den Sozialwohnungen. Aber Jamin spielt auch sehr geschickt mit Licht und Schatten, mit farblichen Verfremdungen, und trügerischen Einstellungen. Doch vor allem bleibt er hauptsächlich bei den Figuren, welche Vaniček trotz der bestehenden Bedrohung weiter sehr natürlich inszeniert. Es steht immer die Dynamik zwischen den so unterschiedlichen Charakteren im Vordergrund, ihre Probleme, Freundschaften, und durchaus auch ihre seelische Verletzlichkeit.
Und in dieses nicht sehr nett bezeichnete Gefüge vernachlässigter Gruppen, dringt eine andere Art von „Ungeziefer“ ein. Das macht gerade die Gruppe von fünf Freunden und Verwandten so interessant, und inszenatorisch gesehen auch so ungewöhnlich. Die Bewohner bekämpfen den krabbelnden Feind mit derselben Intensität und Kälte, wie sie selbst von der Gesellschaft angegangen werden. Doch wie nicht anders zu erwarten, sind das keine gewöhnlichen Spinnen. Sie sind überaus giftig, vermehren sich unnatürlich schnell, und jede Generation ist doppelt so groß wie die vorangegangene.
Erst im letzten Drittel schaltet Sébastien Vaniček in den vollkommenen Horror-Modus. Aber bis dahin hat man bereits derart viele, und exzellent inszeniert Gänsehautmomente erlebt, dass selbst Arachniden-Freunde immerzu kalter Schauer überfällt. Nachdem man glaubt im Spinnenhorror schon alles erlebt zu haben, setzt der Film noch einiges drauf. Das ist aber nicht allein auf die Achtbeiner zurückzuführen. Es ist ein tadelloses Zusammenspiel von Kamera, Schnitt, Soundtrack inklusive elektrisierenden Songs mit gallischem Hip-Hop, einer sehr akzentuierten Regie, und den ungewöhnlich natürlichen Darstellern. Es gibt exzellenten Humor, manchmal trocken, manchmal urkomisch. Und die visuellen Tricks sind eindrucksvoll. Die Kompositionen realer Aufnahmen mit den am Computer generierten Bildern sind nahtlos, und als solche nicht erkennbar.
Aber in erster Linie ist er wirklich unanständig gruselig, weil der Regisseur genau weiß, wie man Spinnenszenen so gestaltet, dass sie sich von klar von den anderen, unendlichen vielen Spinnenfilmen abheben. Da verzeiht auch ein verwöhntes Fan-Herz, dass das Finale in Opulenz und Länge etwas aus dem Ruder läuft. Dafür hat der Film insgesamt viel zu viel Gutes zu bieten. Nicht nur das er eine ausgezeichnete Sozialstudie geworden ist, mit Figuren die man mag, die einem ans Herz wachsen, um die man sich wirklich sorgt. Und das Beste kommt zum Schluss, denn VERMINS – INFESTED – SPIDERS ist bis jetzt wirklich der beste Film, der Atmosphäre, Paranoia, Angst, und Ungewissheit der Corona-Pandemie und der einhergehenden Lockdowns nachvollziehbar widerspiegelt.
Darsteller: Théo Christine, Sofia Lesaffre, Jérôme Niel, Lisa Nyarko, Finnegan Oldfield und Xing Xing Cheng u.a.
Regie: Sébastien Vaniček
Drehbuch: Sébastien Vaniček, Florent Bernard
Kamera: Alexandre Jamin
Bildschnitt: Thomas Fernandez, Nassim Gordji Tehrani
Musik: Xavier Caux, Douglas Cavanna
Produktionsdesign: Arnaud Bouniort
Frankreich, USA / 2023
106 Minuten