IO CAPITANO – Bundesstart 04.04.2024 – Release 07.09.2023 (It)
Besprechung beruht auf der italienische DVD-Fassung – Warum kommt es eigentlich dazu. Wie ist es möglich, dass diese Menschen solche mörderische Strapazen auf sich nehmen. Tag für Tag sieht man es auf den Bildschirmen, aber verfolgt es kaum noch. Doch immer und immer wieder tut sich eines dieser Boote auf, die eigentlich nur noch gegen jede Physik schwimmen. Boote in denen der Tod mitfährt, obwohl selbst für diesen kein Platz sein dürfte. GOMORRAH und DOGMAN Regisseur Matteo Garrone verschreibt sich diesmal einem Thema, dessen Auswirkungen Schlagzeilen machen, aber die Ursachen weitgehend unergründet bleiben. Zwei junge Senegalesen, die ihre Zukunft und das Wohl ihrer Familie in Europa zu finden glauben. Egal was sie in Europa erwartet. In Anbetracht dieser 4000 Km langen Odyssee, erscheint erst einmal alles besser.
Seydou und Moussa träumen nicht von Reichtum und Wohlstand. Aber mit vernünftiger Arbeit und angemessener Bezahlung, könnte das Leben hier in Dakar etwas besser sein. Anstatt in die Schule zu gehen, verdienen sie sich mit knochenharter Arbeit heimlich Geld auf Baustellen. Geld für falsche Pässe, für Bestechung, für Transportwege, um nach Europa zu kommen. Jeder rät ihnen nach Europa zu gehen, jeder der irgendwie an dieser Reise Geld verdienen könnte. Entgegen allen Warnungen der eigenen Familien, brechen Seydou und Moussa voller Hoffnung auf. Eine Hoffnung die schon beim ersten Grenzübertritt vom Senegal nach Mali starke Risse bekommt.
Anders als zu erwarten, inszeniert Matteo Garrone diesen Film mit einer sehr hollywood-esken Erzählstruktur und Bildästhetik. Kameramann Paolo Carnera verzichtet auf dokumentarische Anmutung durch Schulterkamera, was seinen Arbeiten bei A.C.A.B. oder NOSTALGIA noch eine realistische Atmosphäre verliehen hat. Für IO CAPITANO zeichnet Carnaro kraftvolle und klare Bilder, mit vollen Farben. Das bildet eine starken visuellen Widerspruch zu der Erzählung. Das intensiviert immer wieder die Ereignisse, weil eine ständige Kontroverse zwischen Kunst und Realismus entsteht. Die Sahara ist malerisch schön, aber nicht wenn man sie tagelang zu Fuß durchqueren muss.
Sydou und Moussa sind keine realen Personen. Sie haben allerdings reale Vorbilder, und ihre Erlebnisse sind reale Erfahrungen. Jeder der vorgibt ihnen auf ihrer Reise helfen zu wollen, ist nur auf den eigenen Profit bedacht. Grenzsoldaten, Banden, oder Regierungsbeamte, Handlanger von superreichen Magnaten greifen Flüchtende zur Sklavenarbeit auf. Es wird für Lösegeld gefoltert, oder zum Sterben zurückgelassen. Wer sein Geld bekommen hat, überlässt seine Opfer umgehend ihrem eigenen Schicksal. Schlecht gefälschte Pässe, Fußmärsche durch die Wüste, Folter und wahllose Morde, und ein überfüllter Kahn von Libyen nach Sizilien ohne Bootsführer.
Mit seinem Erzählstil macht Garrone das Publikum zu außenstehenden Beobachtern, aber er stößt es nicht in die Position von Seydou oder Moussa. IO CAPITANO bleibt auf ganzer Länge emotional überwältigend, zwingt dafür aber immer wieder innezuhalten. Der Blick von Außen gestattet aber nur kurz die gesamte Situation zu betrachten. Verstehen wird man es ohnehin nicht wirklich. Doch Garrone wagt auch nicht, den Fokus von seinen beiden Figuren zu nehmen. Man bekommt eine Ahnung von der Motivation der Schleuser, aber nicht für das System. Letztendlich ist es die unbeschränkte Naivität von Menschen wie Seydou und Moussa welche das Getriebe ungebrochen am Laufen hält.
Mit seinen drei Co-Autoren hat Matteo Garrone eine zweifellos ergreifende Geschichte verfasst. Aber mit der klaren Position für seine Hauptfiguren, vergisst der Film tiefergehende Fragen aufzugreifen, oder diese überhaupt zu stellen. Er gibt Seydou und Moussa nicht einmal für das Publikum nachvollziehbare Gründe, trotz aller Warnungen, Vorbehalte, und Rückschläge, ihr heimeliges Idyll von Familie, Liebe und Geborgenheit tatsächlich verlassen zu müssen. In manchen Passagen wird der Eindruck erweckt, als wäre der Aufruf zum Verständnis mit den falschen Mitteln erzählt. Am Ende wird Seydou zu einem Helden stilisiert, der tatsächlich das Schlimmste überstanden hat, dem aber mit Moussa noch immer eine unglaublich beschwerliche Reise bevorsteht. Zum Abspann fühlt sich schließlich ein beeindruckender Film unvollständig an.
Darsteller: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Khady Sy, Issaka Sawagodo, Hichem Yacoubi u.v.a.
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: Matteo Garrone, Massimo Cecherini, Massimo Gaudioso, Andrea Tagliaferri
Kamera: Paolo Carnera
Bildschnitt: Marco Spoletini
Musik: Andrea Farri
Produktionsdesign: Dimitri Capuani
Belgien, Frankreich, Italien / 2023
121 Minuten