– Bundesstart 17.11.2023 (limited)
– ab 22.12.2023 Amazon Prime
Für Freunde der englischen Literatur ist es eine wahre Freude die Anleihen in SALTBURN ausfindig zu machen. In Emerald Fennells leider erst zweitem Spielfilm vermutet man ein wenig von ‚Was vom Tage übrig blieb‘, genauso wie von Brontës ‚Sturmhöhen‘, oder dem ‚Talentierten Mr. Ripley‘ (Okay, Highsmith ist Amerikanerin). Aber da ist noch viel mehr in Fennells genial verdrehter Geschichte an das man sich erinnert glaubt, und doch trifft keine der Vermutungen. Nach ihrem schonungslos genialen PROMISING YOUNG WOMAN war die Erwartung entsprechend. Und die zu Recht gepriesene Filmemacherin übertrifft sich dabei noch einmal. Sie stellt zuerst künstlerische Bezüge zu ihrem Erstling WOMAN her, aber wie bei den spekulativen Literaturanleihen, inszeniert sie in eine ganz andere Richtung. Feierte man Emerald Fennell bisher als Entdeckung für radikal zugängliches Frauenkino, befreit sie sich bereits mit ihrem zweiten Film aus diesem Korsett.
SALTBURN ist radikal, aber auch weniger zugänglich. Es klingt zuerst paradox, aber genau deswegen funktioniert der Film auch so unglaublich gut. Die sehr einfache Geschichte des Unterschichtlers Oliver Quick, der in Oxford trotz seines nach Armut schreienden Stipendiums, zufällig mit dem sehr populären und extrem privilegierten Felix Catton bekannt wird. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die bei der anbiedernder Entourage von Felix auf Unverständnis stößt. Dennoch besteht Felix darauf, dass Oliver mit ihm zusammen den Sommer auf dem Familiensitz Saltburn verbringen soll.
In den ersten dreißig Minuten beschäftigt sich Fernnell noch mit sorgsamen Zeichnungen der Figuren, und setzt konkrete Eckpunkte für die gesellschaftlichen Hierarchien. Klare Grundlage für das, was man glaubt auf Saltburn erleben zu dürfen. Und die Filmemacherin enttäuscht nicht. Das Schloss ist an Opulenz kaum zu überbieten, die verschwenderische Dekadenz ist obszön, und Familie Catton mit ihren Dauergästen ein Panoptikum an neurotischen Individuen. Ginge man mehr ins Detail, würde das viel von der faszinierenden Dynamik rauben, die innerhalb dieses Kosmos herrscht.
Jedoch kann man vorweg nehmen, dass es in SALTBURN keine unglaubwürdigen Karikaturen von elitären Adeligen gibt, die man sonst gerne für bloßstellende Häme nutzt. Trotz absurder Phobien, schräger Umgangsformen und illusorischer Borniertheit, macht die Regisseurin den Mikrokosmos in Saltburn überraschend zugänglich. Auf dem feudalen Anwesen angelangt, richten sich die Gegebenheiten erneut gegen die Erwartung des Publikums. Das Figuren-Ensemble von Familie und Gästen entpuppt sich weniger verrückt, als überaus interessant. Verrückt sind nur die folgenden Ereignisse.
Die Erzählerin entfaltet Momente die man bei Christopher Nolan ‚Mind Fuck‘ und in sozialen Netzwerken ‚WTF‘ bezeichnen würde. Erst wenn man denkt das Treiben um fehlgeleitete Lebensgier und unerfüllte Sehnsüchte verarbeitet, verstanden und akzeptiert zu haben, dreht sich die Handlung noch einmal vollständig. Alles wird auf den Kopf gestellt, als wäre es plötzlich ein ganz anderer Film. Doch die Handlung folgt einer inneren Logik, bei der das Ende nicht nach der Geschichte ausgerichtet ist. Sondern alle bisherigen Ereignisse verkehren sich plausibel für dieses Ende in eine andere Erzählung.
SALTBURN ist erstklassiges Arthouse-Kino und Mainstream-Erzählung gleichermaßen. Fennell verschwendet keine Minute, und macht jede Szene bedeutend. Dabei hält sie den Fluss immer am laufen, allerdings ohne zu treiben. Jede Passage soll gut aufgenommen werden, wobei man sich manchmal auch in ihnen fasziniert verlieren kann. Dadurch wird auch keine der noch so absonderlich anmutenden Sequenzen willkürlich. Ob man sie verabscheut, Mitleid hat, sie wertschätzt, oder fasziniert ist, SALTBURNs Figuren wären nicht vorstellbar ohne Darsteller, die so vollkommen in ihren Rollen aufgehen.
Rosamund Pike als stets irritierte Mutter Elspeth scheint, wie annähernd jedes mal, die Rolle ihres Lebens zu spielen. Man verliert sich gerne in ihren verwirrten Gedanken, und kann gar nicht genug von den unergründlichen Tiefen ihres Charakters bekommen. Nach einer enttäuschenden Elvis-Imitation in PRISCILLA, kann aber auch Jacob Elordi sein charismatisches Leinwandpotential ansprechend zur Geltung bringen. Wenn er den verzogenen Schönling nicht zu unterdrücken versteht, aber gleichzeitig mit seinen Worten eine undefinierte Sehnsucht nach außen trägt, ist das unglaublich spannend.
Über den unglaublichen Barry Keoghan, der hier alle Facetten seiner bisherigen Rollen in einer Figur vereint zu zeigen scheint, braucht man kaum noch Worte verlieren. Mit der letzten Szene hat sich Keoghan schon jetzt selbst ein Denkmal gesetzt, und dem Film einen ikonischen Moment gegeben. Bis auf Komponist Anthony Willis, verzichtet Emerald Fennell in den obersten Branchen auf die Sicherheit ihres bewährten Teams von PROMISING YOUNG WOMAN. Und davon profitiert SALTBURN gewaltig. Nicht weil der Film deswegen besser wäre, sondern eine ganz eigenständige Ästhetik bekommt.
Das Bildformat 1,33:1 wurde offensichtlich dafür gewählt, um den Blick des Publikums fokussierter im Geschehen zu halten. Das ist dramaturgisch gesehen ein nachvollziehbarer Kunstkniff, aber eine Verschwendung von der grandiosen Opulenz der Bildgestaltung. Jedes Bild von SALTBURN hat LA LA LAND und NO TIME TO DIE Kameramann Linus Sandgren in ein exakt kadriertes Gemälde verwandelt. Als ob jedes Bild als eigenständiges Kunstwerk bestehen müsste, beherrschen klar symmetrische Strukturen jede Einstellung, gemalt mit einer überwältigenden Palette an Farben und Sättigung.
Der Kontrastumfang ist ausgereizt, was dem Film einen fast schon stereoskopischen Eindruck verleiht. Das sind mutige Entscheidungen, weil die Hochglanzoptik bewußt das Drama konterkariert. Wobei sich sehr clever und dramaturgisch bedingt, der Kontrast im letzten Viertel abschwächt. Auffällig sind zudem die raffinierten Spiegelungen und Reflektionen bei Keoghans Oliver, die seine zwiespältigen Gefühlslagen versinnbildlichen. Letztendlich fügen sich aber auch wirklich alle technischen und künstlerischen Elemente zu einem nicht sehr einfachen, stark herausfordernden, aber dennoch überwältigenden Gesamtkunstwerk. Und Linus Sandgren hat für den Film SALTBURN Bilder kreiert, die im Schloss Saltburn hängen würden.
Darsteller: Barry Keoghan, Jacob Elordi, Alison Oliver, Rosamund Pike, Archie Madekwe, Richard E. Grant und Carey Mulligan u.a.
Regie & Drehbuch: Emerald Fennell
Kamera: Linus Sandgren
Bildschnitt: Victoria Boydell
Musik: Anthony Willis
Produktionsdesign: Suzie Davies
Großbritannien, USA / 2023
131 Minuten